"Wer über die Lehre Christi hinausgeht und nicht bei ihr bleibt, der hat Gott nicht; wer bei der Lehre bleibt, der hat den Vater und den Sohn." (2. Joh 9)
Geschichte
Seit Anfang 1994 treten in charismatischen Gottesdiensten spezielle
Phänomene auf, die nach einer bis Anfang 1996 zur Vineyard-Bewegung
gehörenden Gemeinde in Toronto, in der diese Kennzeichen zuerst bekannt
wurden, unter dem Namen "Toronto-Segen" zusammengefaßt werden. Ein
weiterer Zweig dieses "Aufbruchs" entstammt der neo-charismatischen Bewegung
in Argentinien. Als Wegbereiter des Toronto-Segens werden die
einflußreichen charismatischen Prediger Benny Hinn (US), Claudio
Freidzon (Argentinien) und Rodney Howard Browne (Südafrika) angesehen.
Hinn und Browne sind Vertreter der auch in charismatischen Kreisen
umstrittenen "Wort-des-Glaubens-Theologie" (vgl. BERLINER DIALOG 1 95). Ausgangspunkt war
die Übertragung dieses Segens auf den Gründer der Vineyard
Christian Fellowship in St. Louis, Randy Clark (USA), der
anläßlich einer Evangelisation eines südafrikanischen
Evangelisten, in deren Verlauf ungewöhnliche Manifestationen auftraten,
angeblich vom Geist berührt wurde. Er nahm den "Segen" mit in seine
eigene Gemeinde, von wo aus er auch auf andere Gemeinden übergriff. Die
Gemeinde in Toronto entwickelte sich in der Folgezeit regelrecht zu einer
Art Wallfahrtsort für Tausende von charismatischen Leitern und
Pastoren, die dort eine "Salbung"
übertragen bekommen, um diese für ihre eigenen Gemeinden mitnehmen
zu können. Auch aus der Bundesrepublik machen sich wöchentlich
Gruppen von Mitarbeitern und Pastoren auf den Weg nach Kanada.
Nach einer "Übertragung" durch ein Pastorenehepaar aus London traten auch in Europa die Phänomene des Toronto-Segens auf. Ein weiteres Zentrum wurde die Holy Trinity Brompton Gemeinde in London. Auch hierzulande werden in bestimmten Gemeinden im Rahmen von Anbetungsgottesdiensten die Wirkungen des TorontoSegens mittels Handauflegung durch die Leiter erfahren. In Berlin traten z. B. durch Vermittlung des angereisten Freidzon in der Gemeinde auf dem Weg (Wolfhard Margies) dieselben Phänomene auf. Auf dem Kongreß "Xund '94" in Bern, auf dem die Heilung im Mittelpunkt stehen sollte, demonstrierte John Wimber die Wirkung des Segens an einzelnen Teilnehmern, in dem er sie aufstehen ließ und sich anschließend die spezifischen Phänomene des Segens an ihnen zeigten, wobei die Betroffenen umfielen. In der Basileia Gemeinde in Bern, einem weiteren Zentrum des Toronto-Segens, traten die Phänomene nach der Rückkehr des Leitungskreises aus Toronto so massenhaft auf, daß der Gottesdienst zusammenbrach und die Mitarbeiter aufgrund der eigenen körperlichen Manifestationen in der darauf folgenden Woche arbeitsunfähig waren. Weitere Zentren sind in Frankfurt am Main und Lüdenscheid.
Im November 1994 hielten 40 Repräsentanten charismatischer Organisationen und Gemeinden bei einem Treffen in Niedenstein bei Kassel in einer Erklärung fest, daß sie den Toronto-Segen als Wirkung des Heiligen Geistes deuten. Zu den Unterzeichnern zählte neben einigen umstrittenen Repräsentanten der neo-charismatischen Bewegung - wie Wolfhard Margies ("Gemeinde auf dem Weg"), Berthold Becker ("Fürbitte für Deutschland") und Walter Heidenreich ("Jesusmarsch") - auch Heiner Christian Rust (Pastor einer Ev.-freikirchlichen Gemeinde in Hannover). Die Zahl der deutschen Gemeinden, in denen die Phänomene des Toronto-Segens auftreten, werden derzeit auf 200-400 geschätzt. Am 1. und 2. Dezember 1994 trafen sich 400 Pastoren und Mitarbeiter im Christlichen Zentrum in Frankfurt unter der Thematik dieses Segens. Die Veranstalter rechneten mit einer Multiplikation der Phänomene durch die Teilnahme an dieser Veranstaltung, da die Wirkungen in die Gemeinden "mitgenommen" werden könnten. Dabei wurde auf ähnliche Folgewirkungen in Großbritannien hingewiesen.
Segens-Übertragung
Der Toronto-Segen wird nach Angaben der davon Betroffenen in Toronto von
angereisten Leitern empfangen und in die je eigene Gemeinde "importiert"
oder durch reisende Mitglieder der Vineyard-Bewegung vermittelt bzw.
übertragen. Einige Leiter sprechen davon, daß der Segen so
ansteckend sei, daß er selbst gegen den Willen des "Trägers"
übermittelt werde. Handauflegung und Gebet sind daher für den
Segensempfang nicht obligatorisch. Die Gegenwart von bereits entsprechend
Gesegneten, von Teilnehmern in Gottesdiensten mit den bekannten
Phänomenen und deren Zeugnisse sind ausreichend, um den Segen auf
andere übertragen zu können. Auch an Gottesdiensten teilnehmende
Nicht-Christen können die Phänomene des Toronto-Segens aufweisen.
Diese Erscheinungen treten während des Gottesdienstes auf, etwa beim
Singen, Beten, Segnen oder in einer Phase der Stille. Auch außerhalb
des Gottesdienstes werden diese Wirkungen erlebt. Selbst durch
Zeitungsartikel, die über den Toronto-Segen berichten, sollen die
entsprechenden Effekte ausgelöst worden sein. In der Regel wird der
Segen jedoch in einem bestimmten Teil gegen Ende des Anbetungsgottesdienstes
gespendet, indem für die einzelnen Teilnehmer gebetet wird. Der Pastor
bzw. der Leiter und andere Mitarbeiter gehen während eines
längeren Segnungsteils (in Toronto ca. 2-3 Stunden) durch den Raum und
beten anhaltend für die Anwesenden. Unter Handauflegung/Berührung
wird um Füllung mit dem Heiligen Geist, um Verdoppelung der Kraft und
die Zunahme der Segenswirkung gebetet. Es werden keine konkreten
Gebetsanliegen genannt. Davon zu unterscheiden ist die Dramaturgie von
Massenveranstaltungen. Hier zeigt sich die Praxis schneller, drängender
Gebete durch viele Mitarbeiter unter z.T. wedelnden Handbewegungen, wobei
die Betroffenen angeschrien und durch Gruppendruck suggestiv
beeinflußt werden (wie einige selbst später zugaben).
Deutung der Phänomene durch die Betroffenen
Die auftretenden Phänomene werden von den Betroffenen und den
involvierten Theologen in der Regel als Begegnungen mit dem Geist Gottes
aufgefaßt. So wird gesagt, die Erfahrungen führten zu einer neuen
Liebe zu Christus und zu seiner Gemeinde, einer größeren
Wertschätzung der Bibel und einer neuen Freude am Gebet. Menschen
würden körperlich und seelisch geheilt und gereinigt.
Seelsorgerliche Prozesse würden intensiviert und beschleunigt. Bekannte
Leiter sprechen davon, daß sie eine "romantische Liebesbeziehung" mit
Christus erlebten. Eine neue machtvolle Ausgießung des Heiligen
Geistes finde in den Versammlungen statt. Eine Zeit der Erfrischung und
Stärkung für die Gemeinde Jesu sei angebrochen. Herausragend sei
die neue Intensität und Quantität der Erfahrungen mit dem Heiligen
Geist. Damit ist die Lehre verbunden, wonach Menschen immer wieder neu mit
dem Heiligen Geist getränkt werden müßten. Die Ereignisse
werden aufgrund von Visionen führender Leiter als Zeichen einer
beginnenden Erweckung unter endzeitlicher Perspektive gedeutet sowie als
neue heilsgeschichtliche Epoche, als neues, anderes Wirken Gottes, als
Zeitalter des Heiligen Geistes. In Toronto selbst wird der Segen als eine
erste Welle des Wirkens Gottes gedeutet, die eine Erfrischung für die
Christen sei. Die Gläubigen sollen dadurch für die weiteren
heilsgeschichtlichen Ereignisse vorbereitet und gestärkt werden. In
einer zweiten Phase sollen dann Zeichen und Wunder geschehen, um diejenigen
zurückzubringen, die nicht mehr mit Christus gingen. Schließlich
breche eine Zeit an, in der Menschen in großer Zahl zum Glauben an
Christus kommen würden. Der TorontoSegen sei nicht bereits als
Erweckung zu bezeichnen, sondern als eine Art "Erfrischungsbewegung" zur
Mobilisierung der Gemeinden für die vor ihnen liegende Erweckung.
Der Toronto-Segen als besondere "Missionsstrategie Gottes" stellt eine weitere Interpretationsvariante dar. Es wird gesagt, Gott könne die von der Aufklärung geprägten Menschen nur noch durch ungewöhnliche Wirkungen erreichen. So sei der Segen Anzeichen für eine große Ausgießung des Heiligen Geistes. Zum Teil wird ein Aufbruch erwartet, bei dem vor allem Kinder vom Heiligen Geist ergriffen werden, wie in Visionen (angeblich) vorausgesehen wurde. Gott nehme einen neuen Anlauf, um sein Wirken zu zeigen. Ein Nicht-Ergriffenwerden vom Geist, d. h. das Ausbleiben von Phänomenen kann schnell als Zeichen der mangelnden Öffnung gegenüber Gott gedeutet werden. Die von den Gottesdienstteilnehmern oft als lächerlich empfundenen Äußerungen der Betroffenen werden damit erklärt, daß Gott Humor habe und sich vielleicht humorvolle Dinge ausdenke. Gleichzeitig fungiere der Segen als eine Kontrolle Gottes, mit dessen Hilfe er die Bereitschaft prüfe, sich um seiner Ehre willen zum Narren zu machen.
Angeführte "biblische" Begründung der
Toronto-Phänomene
Zu den wenigen Bibelstellen, die von den Anhängern der Bewegung zur
Legitimierung der Phänomene genannt werden, gehören: Die
Gottesbegegnung des Propheten Daniel, der auf sein Angesicht fällt (Dan
10,9. 11. 16-19), das Damaskuserlebnis des Paulus (Apg 9,1-9), das
Offenbarungserlebnis des Johannes (Offb 1,17) und die Verzückung Sauls
durch den Heiligen Geist (1. Sam 19). Daraus ergebe sich, daß die
Begegnung mit Gott zum Verlust der Körperkontrolle führen
könne. Als Massenphänomene tauchten diese Manifestationen jedoch
im neutestamentlichen Gottesdienst nicht auf. Auch wird das Pfingstereignis
als Prototyp der Segens-Wirkungen gedeutet. Damals empfanden Umstehende die
vom Geist ergriffenen Apostel als "Betrunkene". Allerdings wird im
Zusammenhang dieser Bibelstelle das Sprachenwunder beschrieben, wonach die
zugereisten Festpilger die Apostel in ihrer Muttersprache reden hörten,
während die Ortsansässigen zu eher despektierlichen Deutungen
kamen. Durch die Predigt der Apostel, nicht durch etwaige äußere
Phänomene, kamen viele Menschen zum Glauben. Der Verlust der
Körperkontrolle wird im Zusammenhang mit Pfingsten nicht erwähnt.
Als weiterer Beleg werden Aussagen aus den Abschiedsreden Jesu
angeführt. Dort kündigte Jesu weitere Offenbarungen des Geistes
über die Heilsgeschichte an (Joh 16,12-14). Damit habe er eine
Wirkungsart des Heiligen Geistes gemeint, die über die in der Bibel
bezeugte hinausgeht.1) Das krampfartige "Lachen" wird mit Hilfe von 1. Petr
1,8 erklärt ("Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb. . .
darum werdet ihr mit unaussprechlicher und herrlicher Freude jubeln").
Theologische Bewertung des Toronto-Segens
1. Das Wort Gottes
In der in Kirchen und Freikirchen umstrittenen Frage nach dem Toronto-Segen
ist es notwendig, auf das Gesamtzeugnis der Schrift zu hören. Diese
Prämisse halte ich gerade hinsichtlich unserer Fragestellung für
besonders wichtig. Denn es kann hier nicht um den religiösen Zeitgeist
oder konkret darum gehen, ob die Erweckung (endlich) auch in kirchlichen und
freikirchlichen Reihen Raum greift. Vielmehr gilt es zu prüfen, ob der
Toronto-Segen und die damit verbundenen äußeren Phänomene
einschließlich der angeblich inneren Wirkungen mit der biblischen
Überlieferung übereinstimmen bzw. hermeneutisch
sachgemäß von den entsprechenden Aussagen des AT und NT
abgeleitet werden können.
Maßstab zur Prüfung der Geister können nicht die Erfahrungen, Sehnsüchte und Gefühle einzelner sein, sondern nur die Heilige Schrift. Jedes bezeugte Geisteswirken muß in einer nachvollziehbaren Analogie zu dem geoffenbarten Wort Gottes stehen. In der Bibel ist jedoch im Zusammenhang mit dem Heiligen Geist nirgends die Rede von massenweisem Umfallen, tierischen Lauten, Schreien, Gelächter und Verlust der Selbstkontrolle. Gottesbegegnungen, bei denen die Betroffenen zumeist aus Ehrfurcht oder Furcht zu Boden fallen, bleiben im Blick auf das Ganze der biblischen Überlieferung Einzelereignisse. Es gibt keine Berichte, wonach ganze Gruppen innerhalb der urchristlichen Gemeinde davon erfaßt wurden. Wenn die körperliche Reaktion von Propheten und Aposteln beschrieben wird, stehen Ehrfurchtsbezeugungen vor der Heiligkeit Gottes eindeutig im Vordergrund. Von besonderen Glücksgefühlen oder inneren Friedenserfahrungen ist nicht die Rede, vielmehr überwiegt die Erfahrung von Angst und eigener Schuldhaftigkeit (Jes 6,1ff).
Im Zusammenhang gottesdienstlicher Geschehnisse werden die Toronto-Phänomene an keiner Stelle beschrieben (auch Apg 2 kann nicht für diese Phänomene in Anspruch genommen werden).
Anhänger der "Segens-Bewegung" behaupten angesichts dieses Sachverhalts, daß der Heilige Geist gegenwärtig in Bereiche hineinführe, die jenseits der Bibel stünden. Die meisten Leiter geben offen zu, daß biblische Aussagen überschritten werden. Andererseits ist man bemüht, durch - oftmals skurille - Zusammenstellungen von Bibelstellen - die Phänomene biblisch zu verankern. Die Proskynese (Niederwerfung) vor Gottes Heiligkeit (vgl. Ez 3,23; Mt 17,6) wird bedenkenlos mit dem "Ruhen im Geist" gleichgesetzt, was exegetisch nicht zu überzeugen vermag. Das Umfallen der Gegner Jesu (Joh 18,6) und die Offenbarungserzählungen der Vätergeschichten werden rigoros im Sinne der o. g. Erfahrungen umgedeutet.
Wenn alle Bibelstellen, in denen das Wort "Freude" vorkommt, aufgezählt werden, um die Lachkrämpfe in Folge des TorontoSegens als biblisch zu erweisen, so verrät dies exegetische Naivität. Gleiches gilt für die mit Fleiß betriebene Konkordanzarbeit zum Lexem "Zittern". Der Hinweis auf Kohelet (Predigerbuch) , der eine Zeit für das Lachen kennt (Pred 3,4) und somit die neuartigen Lachanfälle rechtfertige, weist auf die theologische Inkompetenz einiger Leiter hin. Dies führt bis hin zu der spekulativen Behauptung, daß Gott ebenso "emotional" sei wie der nach seinem Bilde geschaffene Mensch (diese Ableitung ist ebenso stichhaltig wie die Behauptung, Gott sei fehlbar, weil der Mensch als Sünder sein Ebenbild trage!).
Das Postulat, Gott wirke heute anders als in der Schrift bezeugt, halte ich für die entscheidende Gefahr, da diese theologische Weichenstellung subjektivistischer Willkür Vorschub leistet. Der Hinweis auf Joh 16,1214, wonach Jesus den Jüngern ein weiteres Wirken des Geistes in Aussicht stelle, das über das in der Schrift geoffenbarte hinausgehe, ist zudem eine klare Fehldeutung.2) Jesus spricht in diesem Zusammenhang nicht von außergewöhnlichen Wirkungen des Geistes, sondern von verbalen Mitteilungen über den Heilsplan Gottes, die durch den Geist nach seiner Erhöhung geoffenbart und verkündet werden sollten. (Der Bezug auf das noch zu offenbarende "Viele" öffnet der Indifferenz in hermeneutischen Fragen Tor und Tür.) Mit der Behauptung, wonach der Heilige Geist nun in Bereiche hineinführt, die über die Bibel hinausgingen, bzw. eine Wirkungsweise des Geistes erlebt werde, die nicht in der Bibel bezeugt ist, wird der Boden reformatorischer Glaubensüberzeugung ebenso verlassen, wie durch die Preisgabe des uns "von außen" (extra nos) zugesagten Wortes, das durch innere Selbstvergewisserungen ersetzt wird. Zugleich wird die Bedeutung der Heiligen Schrift als Grundlage für Lehre, Leben und Dienst in Frage gestellt.
2. Die Wirkung des Geistes
Das vielfältige neutestamentliche Zeugnis über den Heiligen Geist
ist darin stimmig, daß der Geist im Gegensatz zu den Mächten
dieser Welt (1. Kor 12,2) Freiheit bewirkt und nicht in neue Zwänge
führt. Der Verlust der Selbstkontrolle ist gerade kein Merkmal für
den Heiligen Geist, im Gegenteil (1. Kor 14,32f). Eine gut bezeugte Frucht
des Geistes ist vielmehr die Selbstbeherrschung (Gal 5,22; 2. Petr 1,6).
"Rationale" Gaben, wie nüchternes Urteilen und Erkenntnis des Willens
Gottes, werden in der Bibel besonders hervorgehoben (Röm 12,2; Kol
1,9f. - vgl. Jes 11,1-6). Wer um den Geist bittet, bittet zugleich um den
Geist der Besonnenheit (2. Tim 1,7). Immer wieder begegnet der Aufruf zur
Nüchternheit, zur Prüfung und zur Selbstkontrolle (Apg 26,25;
Röm 12,3; 1. Tim 2,9; 2,15; 3,2; Tit 1,8; 2,2-6; 12; 1. Petr 4,7).
Keineswegs ist eine neue, fremdartige Geisterfahrung notwendig, damit der
Christ der Erfüllung mit dem Heiligen Geist gewiß wird. Wer
Christus bekennt, hat den durch den Geist präsenten Christus in der
ganzen Fülle (Gal 2,20). Der Heilige Geist wirkt im Blick auf das
Gesamtzeugnis der Schrift zwar als Urheber der Freude, nicht aber der
ekstatischen Hemmungslosigkeit.
Die Wirkung des Toronto-Segens führt dagegen zum Verlust der Selbstkontrolle. Menschen sind unter dem Eindruck dieser Phänomene z.T. nicht mehr in der Lage, sich (entgegen ihrem Willen) zu erheben oder ihr krampfartiges Lachen einzustellen. Die Gefahr der Manipulation und Fixierung auf einzelne Leiter, die den Geist "freisetzen" können, liegt auf der Hand. Die enthusiastischen Phänomene tragen eher zur Verunsicherung und Entmündigung des Menschen als zu seiner geistlichen Reife bei. Die fundamentalen Wirkungen des Heiligen Geistes lassen sich jedoch mit der Trias von 1. Kor 13 zusammenfassen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Geist wirkt den Glauben, schließt uns Gottes Wort auf und führt dadurch zur Erkenntnis Gottes (1. Kor 2,4f; Eph 1,13-14; Gal 3,14). Der Geist wirkt Liebe zu Gott, zu seiner Gemeinde und zum Nächsten (Röm 5,5). Der Geist wirkt Hoffnung auf die Zukunft der Erlösung (Röm 8,11). Diese geistgewirkte Hoffnung gilt für das individuelle Leben wie auch für die universale Schöpfung. An diesen neutestamentlich bezeugten Wirkungen des Geistes müssen die ambivalenten "Früchte" des Toronto-Segens gemessen werden.
Die ausführlichen Bemerkungen des Paulus zum Einsatz von Geistesgaben im Gottesdienst und seine Zurückhaltung gegenüber ekstatischen Phänomenen sind immer wieder analysiert worden (vgl. 1. Kor 12. 14). Der Apostel verlangt Ehrbarkeit und Ordentlichkeit im Gottesdienst (1. Kor 14,40). Die Wirkung des gottesdienstlichen Geschehens auf Nichtchristen ist für Paulus von großer Bedeutung (1. Kor 14,23). Im Sinne der missionarischen Unanstößigkeit kämpft er gegen die extremen Charismatiker seiner Zeit für einen geordneten und erstaunlich "vernünftigen" Gottesdienst. Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens (1. Kor 14,33. 40). Paulus lehnt eine zentrale Bedeutung ekstatischer Erlebnisse für den Gemeindeaufbau und das Glaubensleben des einzelnen ab (1. Kor 12). Auch aus missionarischer Verantwortung warnt er vor der Überbetonung dieser enthusiastischen Phänomene (1. Kor 14).
3. Zur Rede von einer neuen Geistausgießung
In den veröffentlichten Berichten über den Toronto-Segen und in
weiteren Verlautbarungen der neo-charismatischen Bewegung (vgl. "Marsch
für Jesus") ist wiederholt davon die Rede, daß eine neue
große Geistausgießung bevorstehe bzw. der einzelne Christ
ständig neu mit dem Heiligen Geist getränkt werden müsse. Das
NT sieht jedoch in Jesus Christus die alttestamentlichen Prophezeiungen
über den "Geistträger" erfüllt. Ebenso deutet es die
verheißene Geistausgießung auf alle Menschen mit dem
Pfingstgeschehen. Durch Jesus Christus und sein Versöhnungswerk kommt
der Heilige Geist über alle, die an ihn glauben. Alle Glieder der
Gemeinde Jesu Christi haben daher Teil am Erfülltsein durch den
Heiligen Geist. Geistesgaben sind in diesem Zusammenhang nicht Grade einer
verschiedenen Teilhabe am Geist, sondern verschiedene Ausprägungen
desselben Geistes (1. Kor 12,4). Die Phänomene des Toronto-Segens
können demnach nicht als zusätzliche Geisterfüllung
bezeichnet werden, die anderen Gemeindeglieder fehle. Es findet sich im NT
kein Hinweis auf eine endzeitliche, neuerliche und neuartige
Geistausgießung, die über das Pfingstereignis hinausgeht. Die
Bibel prognostiziert für die Endzeit vielmehr einen weltweiten Abfall
vom Glauben und Verführung. Ausdrücklich wird vor falscher
Prophetie sowie falschen Zeichen, Wundern und Heilsbringern gewarnt (Mt
7,1523; Mt 24,4-14; 2. Thess 2,9-12; Offb 13; 1. Joh 4,1. 6; 2. Kor 11).
4. Der Heilige Geist führt zur Gemeinschaft
Das Wirken des Heiligen Geistes wird im NT (und AT) vorrangig
als Geschehen der Vergemeinschaftung verstanden. Durch den Geist werden die
Zugehörigkeit zu Christus und die Gliedschaft an seinem Leib bewirkt
(Röm 8,14). Für die geistgewirkte Verbundenheit der Glieder der
Gemeinde mit Christus und untereinander sind alle Unterschiede des
Geschlechts, der Herkunft, der Nation, der Rasse und des sozialen Standes
hinfällig geworden (Gal 3,28). Die Betonung von besonderen Gaben des
Geistes bzw. einer besonderen "Salbung" kann zur Gefahr für die Einheit
der Gemeinde werden, wenn Elitebewußtsein und geistliches Stufendenken
um sich greifen. Diese im Urchristentum latente Gefahr wurde bereits von den
Aposteln mit aller Entschiedenheit bekämpft. Der Toronto-Segen stiftet
in der Christenheit zur Zeit eher Verwirrung und Streit und vermehrt
Tendenzen zur Spaltung und Distanzierung. Aufmerken läßt der in
den Medien bezeugte Umgang mit "Gegnern" oder Kritikern des Toronto-Segens.
Sie werden im Einzelfall durch gezielte Ausgrenzung zur Trennung von der
Gemeinde gedrängt. Die in der Presse aufgegriffenen prophetischen
Todesdrohungen (B. Bahr, Singen) verweisen aufgrund der Analogien zum
islamischen Fundamentalismus auf eine bedenkliche Entwicklung.
Die seelsorgerlichen Probleme sind ebenso evident. Es kommt zu Enttäuschungen bei denjenigen, die trotz aller Bemühung nicht die o. g. Manifestationen erleben. Zudem ist die Gefahr eines Überlegenheitsbewußtseins ("geistlicher Hochmut") bei den "Gesegneten" nicht von der Hand zu weisen. Entgegen dem neutestamentlichen Zeugnis führt der angeblich "geistgewirkte" Toronto-Segen nicht zur Gemeinschaft, sondern zur Vereinzelung. Der einzelne Gläubige erlebt eine überragende Transzendenzerfahrung, die ihn von anderen Christen und Gemeindegliedern unterscheidet. Der Toronto-Segen ist daher kein Gemeinschaftserlebnis, noch vermittelt er ein Gemeinschaftsgefühl, sondern dient vornehmlich der "Zurüstung" einzelner. Paulus kritisiert die Überbewertung der ekstatischen Gaben in der korinthischen Gemeinde, die lediglich einzelne erbauen, mit dem Hinweis darauf, daß das Wirken des Geistes stets auf die Auferbauung der Gemeinde zielt. Das neben der Christusbezogenheit wichtigste Kriterium für das Wirken des Heiligen Geistes ist, daß es "die Verbundenheit" aller mit Christus und untereinander nicht in Frage stellt, sondern stärkt (W. Joest).
5. Soziologische und kirchengeschichtliche Einordnung
Religionswissenschaftler und Soziologen stimmen darin überein,
daß in unserer Gesellschaft gegenwärtig vermehrt
Transzendenzerfahrungen zur Glaubensvergewisserung gesucht werden. Sie
diagnostizieren eine offensichtliche Anpassung der neocharismatischen
Bewegung an Trends der religiösen Alternativkultur. Die auftretenden
Phänomene erinnern zudem an Ausdrucksformen der frühen
Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, aber auch der beginnenden
Pfingstbewegung. Sie selbst sind daher nicht neu, wohl aber ihr
massenhaftes, unkontrolliertes Auftreten, das durch die verantwortlichen
Leiter nicht mehr eingeschränkt wird, sondern selbst in den
Extremformen als der besondere "Segen" angesehen wird. In der
Erwekkungsbewegung wurden diese Phänomene jedoch nicht zu einem festen
und ritualisierten Bestandteil der Gottesdienste. Sie galten nicht als
reguläre Geisterfahrung. Namhafte Vertreter der Erweckungsbewegung
integrierten diese Phänomene nicht gezielt in ihre Missionsstrategie
bzw. ihre Versammlungsvorbereitungen, um der von ihnen erkannten Gefahr von
Spaltungen, Elitebewußtsein und theologischen Irrwegen keinen Vorschub
zu leisten.
6. Segens-Tourismus
Mit dem Toronto-Segen verbindet sich eine dem kultischen Denken verhaftete
Anschauung, wonach Gottes Geist bzw. Gegenwart an bestimmte Orte gebunden
ist. Diesem Denken korrespondiert das Bedürfnis nach Sichtbarund
Greifbarwerden Gottes an besonders gesegneten Orten mittels Segensund
Vollmachtsübertragung. Die verbreitete Aussage, wonach der TorontoSegen
an speziellen Orten durch eigens dafür gesegnete Leiter geradezu
"anstekkungsartig" weitergegeben werde, macht die Begegnung mit dem Heiligen
Geist zu einem quasi magischen Geschehen, das im Widerspruch zum freien
Wirken des Geistes in der Bibel steht. Besonders problematisch sind die
Wirkungen an Nicht-Christen sowie durch materielle Medien (z. B.
Zeitungsberichte über den Toronto-Segen).
Gleichartige Erfahrungen des Überwältigwerdens und Kontaktgewinns mit göttlicher Kraft durch Kontrollverlust über den eigenen Körper und Intellekt finden sich auch in anderen Religionen und Therapien. Die Verwechselbarkeit der Phänomene sollte zur Vorsicht mahnen. Ekstase und Enthusiasmus sind, wie die Bibel kritisch urteilt, immer mehrdeutig. Erst durch die theologische Deutung werden diese Phänomene als Wirken des Heiligen Geistes verstanden. Es steht in Frage, ob es sich dabei wirklich um eine Gottesbegegnung oder Begegnungen mit dem eigenen Unterbewußten (Reinhard Hempelmann) handelt. In Gottesdiensten und Kongressen kann die Faszination der äußeren Manifestationen auch von den Leitern, die vorwiegend die inneren Wirkungen betonen, nicht geleugnet werden. Es fällt schwer, neben gegenwärtig erfahrenen Gefühlen die längerfristigen "Früchte des Segens" nachzuweisen. Heilungen, die nicht im Vordergrund stehen sollen, ließen sich ebenfalls erst nach längerer Zeit beweisen. Der Toronto-Segen wird von den Betroffenen darüber hinaus nicht immer als Bereicherung bzw. Freude erlebt. Seelsorger berichten, daß die Ratsuchenden auch negative Erlebnisse, Ängste (Schlafstörungen, Depression) und Verunsicherung im Glauben durch die äußeren Manifestationen erleben.
8. Medizinische Deutung
Mediziner und Psychologen (Streßund Hypnoseforschung) begegnen
ekstatischen Phänomenen in der neo-charismatischen Bewegung mit
durchaus ernstzunehmenden "rationalen" Deutungen. Eine Beurteilung aus dem
medizinischen Bereich soll hier kurz angeführt werden. In
Streßsituationen werden im menschlichen Körper sog. Endorphine
ausgeschüttet. Diese körpereigenen "Drogen" haben ähnliche
Wirkungen wie Opiate, wodurch es auch zum Verlust der Körperkontrolle
kommen kann. Durch Beeinflussung der Gefühle mittels Suggestion
können diese biochemischen Prozesse ausgelöst werden. Diesselben
physischen und psychischen Phänomene lassen sich auch in anderen
Religionen, Therapien und Kulten aufweisen.
Nach den bisherigen Recherchen, der Prüfung vor dem Gesamtzeugnis der Schrift und der Wirkung auf die Gemeinschaft der christlichen Gemeinden kann der TorontoSegen m. E. nicht als Wirkung des Heiligen Geistes verstanden werden.
1) Diese Interpretation des johanneischen Parakleten zeigt Affinitäten zur Lehre der von der Alten Kirche als häretisch beurteilten Montanisten im 2. Jahrhundert n. Chr. , denen die neocharismatische Bewegung auch phänomenologisch in manchem sehr ähnlich ist (vgl. Anm. 2).
2) Vgl. die Ausführungen von H. C. Rust in DIE GEMEINDE 46/1994, S. 6, der sich damit den Ansichten des Montanismus nähert (vgl. Anm. 1): "In diesem Wort mag eine biblische Verankerung dafür zu finden sein, daß es Wirkungsweisen des Heiligen Geistes gibt, die uns in der Heiligen Schrift nur ansatzweise (sic!) berichtet werden, heute aber eine größere Ausbreitung finden."
Dr. theol. Andrea Strübind 33,
ist Pastorin in einer Ev.-freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) in
München. Bis 1995 war sie Referentin für den Bereich der
Freikirchen im Ökumenisch-Missionarischen Institut Berlin, einer
Einrichtung des Ökumenischen Rates Berlin, der Berliner ACK. Der
vorliegende Text basiert auf ihrer Ausarbeitung für die Sitzung der
Bundesleitung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten)
BEFG im Februar 1995.