Was ist christliche Meditation?

von Christian J. Hövermann

  1. Die Reise nach innen
  2. Was ist christliche Meditation?
  3. II. Gott über uns
  4. Betendes Atmen
    1. Weg von mir
    2. Hin zu Dir
    3. Still vor Dir
    4. Her von Dir
  5. Loslassen und konzentriert bleiben

I."Die Reise nach innen"

"Wie kann ich tiefer zu Jesus finden?", fragte ein 17jähriger Schüler seine Pfarrerin. Sie empfahl im das Buch "Jesus" von Günter Bornkamm, einem namhaften Bibelwissenschaftler. In diesem Buch fand der Jugendliche nicht, was er suchte. Nicht eine wissenschaftliche Orientierung interessierte ihn, sondern eine Anleitung zur christlichen Lebensgestaltung. Die Antwort der Pfarrerin war typisch für die knochentrockene Schreibtischfrömmigkeit einer ganzen Theologengeneration.

"Wie kann ich tiefer zu Jesus finden?", auf diese Frage würde ich heute anders antworten als meine Pfarrerin damals. Ich würde die christliche Meditation ansprechen. Sie hilft mir, ein mit Christus verbundenes Leben zu führen.

Seit einiger Zeit gibt es auch in unserer Kirchengemeinde "Zum Heilsbronnen" in Berlin einen Kreis für "Geistliche Übungen", der sich regelmäßig zu christlicher Meditation im Gemeindezentrum trifft.

So sehr es dabei um die innere Entwicklung des einzelnen geht, zum Meditieren braucht man die persönliche Anleitung und eine Gemeinschaft, die einen trägt.

Was ist christliche Meditation?

Darüber möchte ich in dieser Artikelfolge im BERLINER DIALOG Auskunft geben. Beginnen werde ich mit dem Einblick, den jemand, von dem man so etwas nicht unbedingt erwartet, freimütig in sein Meditieren gewährte. Es ist der Schwede Dag Hammarskjöld, seines Zeichens Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953 bis 1961:

Ich sitze hier vor Dir, Herr, aufrecht und entspannt, mit geradem Rückgrat.
Ich lasse mein Gewicht senkrecht durch meinen Körper hinuntersinken auf den Boden, auf dem ich sitze.

Für mein Verständnis der christlichen Meditation ist ein Gebet Dag Hammerskjölds wichtig geworden, in dem er sichan ein dreifaches Du wendet:

Du, der über uns ist,
Du, der einer von uns ist,
Du, der ist -
auch in uns.

Ich halte meinen Geist fest in meinem Körper.
Ich widerstehe seinem Drang, aus dem Fenster zu entweichen,
an jedem anderen Ort zu sein als an diesem hier,
in der Zeit nach vorn und hinten auszuweichen,
um der Gegenwart zu entkommen.
Sanft und fest halte ich meinen Geist dort, wo mein Körper ist: hier in diesem Raum.
In diesem gegenwärtigen Augenblick lasse ich alle meine Pläne, Sorgen und Ängste los.
Ich lege sie jetzt in Deine Hände, Herr.
Ich lockere den Griff, mit dem ich sie halte und lasse sie Dir.

Für den Augenblick überlasse ich sie Dir.
Ich warte auf dich erwartungsvoll.
Du kommst auf mich zu, und ich lasse mich von Dir tragen.

Ich beginne die Reise nach innen.
Ich reise in mich hinein zum innersten Kern meines Seins, wo Du wohnst.
An diesem tiefsten Punkt meines Wesens bist du immer schon vor mir da,
schaffst, belebst, stärkst ohne Unterlaß
meine ganze Person.

Gott, Du bist lebendig.
Du bist in mir.
Du bist hier.
Du bist jetzt.

Du bist der Grund meines Seins.
Ich lasse los.
Ich sinke und versinke in Dir.
Du überflutest mein Wesen.
Du nimmst von mir Besitz.

Ich lasse meinen Atem zu diesem Gebet der
Unterwerfung unter dich werden.
Mein Atem, mein Ein- und Ausatmen, ist
Ausdruck meines ganzen Wesens.
Ich tue es für dich - mit Dir in Dir.

Es lohnt sich, diese Beschreibung mehrmals - vielleicht auch laut - zu lesen, um so das betende Meditieren Dag Hammarskjölds kennenzulernen.

- Dabei sollte nicht übersehen werden, daß hier kein beschaulich lebender Klostermensch spricht. Als höchster politischer Beamter der Welt hatte Hammarskjöld nicht nur einen übervollen Terminkalender. Er war auch mit den großen Sorgen seiner Zeit befrachtet: mit der Besitznahme des Suezkanals durch Nasser (1956), dem Volksaufstand im kommunistischen Ungarn im selben Jahr und der Kongokrise (1960/61).

Die Reise nach innen, die er schildert, hat nichts mit Weltflucht oder Müßiggang zu tun. Sie ist ein notwendiges Atemholen, das den Strom der Alltagsgedanken unterbricht. Ein solches Atemholen kann für jeden Menschen wohltuend sein und ihn Gott näher bringen.

Die Erfahrung Gottes ist das Ziel der christlichen Meditation Dag Hammarskjölds. Gott wohnt - bildhaft gesprochen - im tiefsten Punkt meines Wesens. Von dort will er auf mich zukommen, wenn ich ihn erwarte, besser noch, wenn ich mich zu ihm aufmache.

Die Reise zu Gott ist eine Reise ohne Gepäck. Alles, was mich im Griff hat, Pläne, Sorgen, Ängste, muß losgelassen werden.

Der Führer auf dieser Reise ist der Atem. Sobald der Reisende in einer zweckmäßigen Weise Platz genommen hat und bereit ist, sich zu konzentrieren, kann er sein Werk beginnen.

Im Unterschied zu einem religiösen Meditieren, das keinem Wort für Gott mehr traut, redet Hammarskjöld Gott voller Zuversicht in der zweiten Person mit "Du" (großgeschrieben!) an. Er kann dies ganz selbstverständlich tun, weil für ihn - wie für die christliche Meditation überhaupt - Gott der Vater Jesu Christi ist.

II. Gott über uns

Für mein Verständnis der christlichen Meditation ist ein Gebet Dag Hammarskjölds wichtig geworden, in dem er sich an ein dreifaches Du wendet: Du, der über uns ist, Du, der einer von uns ist, Du, der ist - auch in uns.

Christliche Meditation hat mit dem dreifachen Du des dreifaltigen Gottes zu tun:
Mit GOTT ÜBER UNS,
mit GOTT UNTER UNS
und mit GOTT IN UNS.
In ihr öffne ich mich dem himmlischen Vater, der "über" uns ist, dem Sohn, der "einer von uns" geworden ist, und gebe dem Heiligen Geist "in mir" Raum.

Betendes Atmen

Gott, der Vater, ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Ein Weg zu ihm ist der Atem, der in der Bibel als Bindeglied zwischen Schöpfer und Geschöpf betrachtet wird:

"Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (1. Mose 2,7) und: "der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben." (Hiob 33,4).

Leben heißt atmen. Die Atmung macht ein Lebewesen lebendig und hält es am Leben. In christlicher Sicht ist der Atem eine Gabe Gottes. Durch seine Atemspende schenkt Gott den Geschöpfen das Leben. Dieses Gottesgeschenk bietet den Einstieg in ein einfaches, tiefes - womöglich immerwährendes - Beten, in dem der Mensch sein Woher und Wohin erspürt und so vor seinen Schöpfer tritt.

Aber sind wir überhaupt noch imstande richtig zu atmen, geschweige denn - betend zu atmen? An diesem Punkt verschränken sich biblische Besinnung und Leibarbeit. Diese Verschränkung ist typisch für die christliche Meditation. In ihr geht es um ein ganzheitliches Beten. Vor Gott den Schöpfer zu treten, ist für sie nicht in erster Linie eine Denkaufgabe oder eine Wissensfrage, sondern ein Geschehen, das Leib, Seele und Geist betrifft. Scheinbar unwichtige Dinge werden sorgfältig beachtet: das Atmen, das Sitzen, das Gehen, die Gebetsgebärden. Um beispielsweise wieder unverklemmt, frei und tief atmen zu können, werden Körperübungen vom lauten Gähnen bis zum Abrollen der Wirbelsäule angeboten. Für ein gutes Atmen im Sitzen nimmt man am besten aufrecht Platz ohne sich anzulehnen. Dazu gibt es spezielle Meditationshocker und -Kissen, aber auch Stühle mit gerader Sitzfläche leisten gute Dienste.

Wenn der Atem frei strömt, geht es weiter zum betenden Atmen. Dieses beginnt immer mit einem tiefen Ausatmen, nach dem die Luft wie von selbst neu einströmt (es ist ganz wichtig, von der Vorstellung Abschied zu nehmen: Ich ziehe den Atem ein). Dem Ausatmen und dem Einströmenlassen des Atems entsprechen zwei Aspekte des geistlichen Lebens, das Loslassen und das Empfangen. Der Atem kann zu einer Schule des Loslassen und des Empfangens werden. Dazu helfen die Worte:
Weg von mir.
Hin zu Dir.
Still vor Dir.
(beim Ausatmen gesprochen) Her von Dir.
(beim "Einatmen" gesprochen)

Weg von mir:
Wir werden im Alltag zur Beute von Ärger, Termindruck, Überanstrengung. Unser Lebenstempo ist ökonomisch bestimmt mit Blick auf die Uhr und die zu erledigende Arbeit. * Denkschleifen treiben einen in die Enge: "Was ist, wenn...?" "Sollte ich nicht besser...?" - Nicht selten bietet die sogenannte Freizeit für die Nerven - geistlich gesprochen: für den inneren Menschen keine wirkliche Entspannung, sondern Streß in anderer Form, Streß im Straßenverkehr, Streß am Fernseher, Streß am Computer. Alkohol, Nikotin oder Süßigkeiten können die Ruhe nicht ersetzen, die hier fehlt. - Das bewußte und tiefe Ausatmen bedeutet: Ich lasse los, was meinen Tageslauf normalerweise bestimmt. Ich nehme Abstand, vom Kreislauf der Gedanken, Pläne, Wünsche und Sorgen.

Hin zu Dir:
Mit dem Ausatmen lasse ich auch los, was mich von Gott trennt, von ihm ablenkt. In dem Maße, in dem das AlltagsIch zur Ruhe kommt, wird Raum für Gott frei. Ich erkenne, daß die Verherrlichung Gottes der höchste Sinn meines Lebens ist. Jesus wollte mit den ersten drei Bitten des Vaterunsers zur Verherrlichung Gottes anleiten: Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe. Gesprochen ist das in drei Sekunden. Aber wie wird es gelebt? An diesem Punkt setzt die christliche Meditation ein.

Still vor Dir:
Das Ziel der Gebetsübung ist die Stille vor Gott. Ein schönes Bild für dieses Zur-Ruhe-Kommen ist die Taucherkugel, die auf den Meeresboden hinabgelassen wird. Während auf der Meeresoberfläche der Wind die Wellen vor sich hintreibt, ist davon in der Tiefe nichts zu spüren. Hier ist Stille. In der geistlichen Übung wird das Ich von der bewegten Oberfläche des Tagesbewußtseins in die ruhige Tiefenschicht seines Selbst geführt. Es bleibt dabei wach und bei sich selbst.

Damit ist nicht nur eine sitzende Versenkung gemeint. Die Stille vor Gott ist die liturgische Haltung schlechthin. Christlicher Gottesdienst verträgt sich weder mit innerer Unruhe (z.B. dem Warten auf die Predigt, auf ein Anspiel oder gar auf den Schluß) noch mit unbeteiligtem Dösen, noch mit der Hektik eines Liturgen, der spürbar ein Programm abarbeitet. (Als ob er der Produzent dessen wäre, worum es im Gottesdienst geht.) Die Kirche empfiehlt deshalb zur Einstimmung in den Gottesdienst Gerhard Tersteegens Lied "Gott ist gegenwärtig". In ihm geht es um die innere Sammlung, jene Stille vor Gott, zu der das betende Atmen führt:
"Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge." (EG 165,1)

Her von Dir:
Ich lebe von Gott her. Daran erinnert das Einatmen. Das Einatmen ist in der geistlichen Betrachtung nicht ein aktives Einziehen der Luft, sondern ein Kommenlassen der göttlichen Lebenskraft. Von Gott empfange ich immer wieder neu den Lebensodem. Ohne ihn bin ich Staub. "Was hast du, das du nicht empfangen hast?", fragt der Apostel Paulus (1. Kor. 4,7). - Nichts fällt dem modernen Menschen, dem homo faber, der selber seines Glükkes Schmied sein will, so schwer wie die Einsicht, daß er sein Leben und Schaffen Gott ganz und gar verdankt. "Dir uns lassen ganz und gar" (aus EG 138) lautet deshalb ein anderer Gebetsvers, der für die christliche Meditation wichtig ist.

Loslassen und konzentriert bleiben

Über das Loslassen müssen wir noch etwas weiter nachdenken, damit deutlich wird, daß es sich nicht um ein "Dösen auf höherer Ebene" handelt, wie eine spitze Feder einmal unzutreffend über das Meditieren schrieb.

Das Tagesbewußtsein wird von den fünf Seelenkräften: dem Verstand, dem Gedächtnis, dem Willen, dem Gefühl und den Sinnen regiert. Der Mensch ist ein denkendes, handelndes, sich erinnerndes, fühlendes und wahrnehmendes Wesen. Er kann seine Seelenkräfte bald angespannt und voller Intensität einsetzen, bald mäßig angestrengt und routiniert gebrauchen oder er versucht abzuschalten, vielleicht ist er auch einmal "weggetreten". Die folgende Übersicht zeigt Umfang und Bandbreite des Tagesbewußtseins:

VERSTAND angespannt: denken
abgeschaltet: dösen
GEDÄCHTNIS angespannt: erinnern
abgeschaltet: träumen
WILLE angespannt: handeln
abgeschaltet: pausieren
GEFÜHL angespannt: empfinden
abgeschaltet: erstarren
SINNE angespannt: wahrnehmen
abgeschaltet: ertauben

Was passiert nun beim betenden Atmen? Einerseits nehme ich - ausatmend - von Gedanken, Erinnerungen, Plänen, Empfindungen und Wahrnehmungen Abstand. Ich nehme die Anspannung zurück, aber ich schalte nicht ab, wenn ich meditiere. Es geht nicht um Dösen, Träumen, Pausieren, Erstarren oder Ertauben, - wer beim Meditieren döst oder träumt, verdöst und verträumt auch die Meditation - sondern um eine konzentrierte Übung. Durch das Achten auf den Atem, das Blicken in eine bestimmte Richtung (z.B. auf eine brennende Kerze) und das betende Sprechen wird der Geist daran gehindert, abzuschalten. Dazu gehört auch, daß man am besten nicht in einer "Abfallzeit" meditiert, in der man nichts Rechtes anfangen kann, sondern frisch und ausgeschlafen.

Die Meditationsgruppe in unserer Gemeinde trifft sich deshalb samstags um 8.30 Uhr. Das ist ein Zeitopfer, aber wichtig für ein konzentriertes Loslassen.