I."Die Reise nach innen"
"Wie kann ich tiefer zu Jesus finden?", fragte ein 17jähriger
Schüler seine Pfarrerin. Sie empfahl im das Buch "Jesus" von
Günter Bornkamm, einem namhaften Bibelwissenschaftler. In diesem Buch
fand der Jugendliche nicht, was er suchte. Nicht eine wissenschaftliche
Orientierung interessierte ihn, sondern eine Anleitung zur christlichen
Lebensgestaltung. Die Antwort der Pfarrerin war typisch für die
knochentrockene Schreibtischfrömmigkeit einer ganzen
Theologengeneration.
"Wie kann ich tiefer zu Jesus finden?", auf diese Frage würde ich heute anders antworten als meine Pfarrerin damals. Ich würde die christliche Meditation ansprechen. Sie hilft mir, ein mit Christus verbundenes Leben zu führen.
Seit einiger Zeit gibt es auch in unserer Kirchengemeinde "Zum Heilsbronnen" in Berlin einen Kreis für "Geistliche Übungen", der sich regelmäßig zu christlicher Meditation im Gemeindezentrum trifft.
So sehr es dabei um die innere Entwicklung des einzelnen geht, zum Meditieren braucht man die persönliche Anleitung und eine Gemeinschaft, die einen trägt.
Was ist christliche Meditation?
Darüber möchte ich in dieser Artikelfolge im BERLINER DIALOG
Auskunft geben. Beginnen werde ich mit dem Einblick, den jemand, von dem man
so etwas nicht unbedingt erwartet, freimütig in sein Meditieren
gewährte. Es ist der Schwede Dag Hammarskjöld, seines Zeichens
Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953 bis 1961:
Ich sitze hier vor Dir, Herr, aufrecht und entspannt, mit geradem
Rückgrat.
Ich lasse mein Gewicht senkrecht durch meinen Körper hinuntersinken auf
den Boden, auf dem ich sitze.
Für mein Verständnis der christlichen Meditation ist ein Gebet Dag Hammerskjölds wichtig geworden, in dem er sichan ein dreifaches Du wendet:
Du, der über uns ist,
Ich halte meinen Geist fest in meinem Körper.
Ich beginne die Reise nach innen.
Gott, Du bist lebendig.
Du bist der Grund meines Seins.
Ich lasse meinen Atem zu diesem Gebet der
Du, der einer von uns ist,
Du, der ist -
auch in uns.
Ich widerstehe seinem Drang, aus dem Fenster zu entweichen,
an jedem anderen Ort zu sein als an diesem hier,
in der Zeit nach vorn und hinten auszuweichen,
um der Gegenwart zu entkommen.
Sanft und fest halte ich meinen Geist dort, wo mein Körper ist: hier in
diesem Raum.
In diesem gegenwärtigen Augenblick lasse ich alle meine Pläne,
Sorgen und Ängste los.
Ich lege sie jetzt in Deine Hände, Herr.
Ich lockere den Griff, mit dem ich sie halte und lasse sie Dir.
Für den Augenblick überlasse ich sie Dir.
Ich warte auf dich erwartungsvoll.
Du kommst auf mich zu, und ich lasse mich von Dir tragen.
Ich reise in mich hinein zum innersten Kern meines Seins, wo Du wohnst.
An diesem tiefsten Punkt meines Wesens bist du immer schon vor mir da,
schaffst, belebst, stärkst ohne Unterlaß
meine ganze Person.
Du bist in mir.
Du bist hier.
Du bist jetzt.
Ich lasse los.
Ich sinke und versinke in Dir.
Du überflutest mein Wesen.
Du nimmst von mir Besitz.
Unterwerfung unter dich werden.
Mein Atem, mein Ein- und Ausatmen, ist
Ausdruck meines ganzen Wesens.
Ich tue es für dich - mit Dir in Dir.
Es lohnt sich, diese Beschreibung mehrmals - vielleicht auch laut - zu lesen, um so das betende Meditieren Dag Hammarskjölds kennenzulernen.
- Dabei sollte nicht übersehen werden, daß hier kein beschaulich lebender Klostermensch spricht. Als höchster politischer Beamter der Welt hatte Hammarskjöld nicht nur einen übervollen Terminkalender. Er war auch mit den großen Sorgen seiner Zeit befrachtet: mit der Besitznahme des Suezkanals durch Nasser (1956), dem Volksaufstand im kommunistischen Ungarn im selben Jahr und der Kongokrise (1960/61).
Die Reise nach innen, die er schildert, hat nichts mit Weltflucht oder Müßiggang zu tun. Sie ist ein notwendiges Atemholen, das den Strom der Alltagsgedanken unterbricht. Ein solches Atemholen kann für jeden Menschen wohltuend sein und ihn Gott näher bringen.
Die Erfahrung Gottes ist das Ziel der christlichen Meditation Dag Hammarskjölds. Gott wohnt - bildhaft gesprochen - im tiefsten Punkt meines Wesens. Von dort will er auf mich zukommen, wenn ich ihn erwarte, besser noch, wenn ich mich zu ihm aufmache.
Die Reise zu Gott ist eine Reise ohne Gepäck. Alles, was mich im Griff hat, Pläne, Sorgen, Ängste, muß losgelassen werden.
Der Führer auf dieser Reise ist der Atem. Sobald der Reisende in einer zweckmäßigen Weise Platz genommen hat und bereit ist, sich zu konzentrieren, kann er sein Werk beginnen.
Im Unterschied zu einem religiösen Meditieren, das keinem Wort für Gott mehr traut, redet Hammarskjöld Gott voller Zuversicht in der zweiten Person mit "Du" (großgeschrieben!) an. Er kann dies ganz selbstverständlich tun, weil für ihn - wie für die christliche Meditation überhaupt - Gott der Vater Jesu Christi ist.
II. Gott über uns
Für mein Verständnis der christlichen Meditation ist ein Gebet Dag
Hammarskjölds wichtig geworden, in dem er sich an ein dreifaches Du
wendet: Du, der über uns ist, Du, der einer von uns ist, Du, der ist -
auch in uns.
Christliche Meditation hat mit dem dreifachen Du des dreifaltigen Gottes zu
tun:
Mit GOTT ÜBER UNS,
mit GOTT UNTER UNS
und mit GOTT IN UNS.
In ihr öffne ich mich dem himmlischen Vater, der "über" uns ist,
dem Sohn, der "einer von uns" geworden ist, und gebe dem Heiligen Geist "in
mir" Raum.
Betendes Atmen
Gott, der Vater, ist der Schöpfer des Himmels und der
Erde. Ein Weg zu ihm ist der Atem, der in der Bibel als Bindeglied zwischen
Schöpfer und Geschöpf betrachtet wird:
"Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (1. Mose 2,7) und: "der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben." (Hiob 33,4).
Leben heißt atmen. Die Atmung macht ein Lebewesen lebendig und hält es am Leben. In christlicher Sicht ist der Atem eine Gabe Gottes. Durch seine Atemspende schenkt Gott den Geschöpfen das Leben. Dieses Gottesgeschenk bietet den Einstieg in ein einfaches, tiefes - womöglich immerwährendes - Beten, in dem der Mensch sein Woher und Wohin erspürt und so vor seinen Schöpfer tritt.
Aber sind wir überhaupt noch imstande richtig zu atmen, geschweige denn - betend zu atmen? An diesem Punkt verschränken sich biblische Besinnung und Leibarbeit. Diese Verschränkung ist typisch für die christliche Meditation. In ihr geht es um ein ganzheitliches Beten. Vor Gott den Schöpfer zu treten, ist für sie nicht in erster Linie eine Denkaufgabe oder eine Wissensfrage, sondern ein Geschehen, das Leib, Seele und Geist betrifft. Scheinbar unwichtige Dinge werden sorgfältig beachtet: das Atmen, das Sitzen, das Gehen, die Gebetsgebärden. Um beispielsweise wieder unverklemmt, frei und tief atmen zu können, werden Körperübungen vom lauten Gähnen bis zum Abrollen der Wirbelsäule angeboten. Für ein gutes Atmen im Sitzen nimmt man am besten aufrecht Platz ohne sich anzulehnen. Dazu gibt es spezielle Meditationshocker und -Kissen, aber auch Stühle mit gerader Sitzfläche leisten gute Dienste.
Wenn der Atem frei strömt, geht es weiter zum betenden Atmen. Dieses
beginnt immer mit einem tiefen Ausatmen, nach dem die Luft wie von selbst
neu einströmt (es ist ganz wichtig, von der Vorstellung Abschied zu
nehmen: Ich ziehe den Atem ein). Dem Ausatmen und dem Einströmenlassen
des Atems entsprechen zwei Aspekte des geistlichen Lebens, das Loslassen und
das Empfangen. Der Atem kann zu einer Schule des Loslassen und des
Empfangens werden. Dazu helfen die Worte:
Weg von mir.
Hin zu Dir.
Still vor Dir.
(beim Ausatmen gesprochen)
Her von Dir.
(beim "Einatmen" gesprochen)
Weg von mir:
Wir werden im Alltag zur Beute von Ärger, Termindruck,
Überanstrengung. Unser Lebenstempo ist ökonomisch bestimmt mit
Blick auf die Uhr und die zu erledigende Arbeit. * Denkschleifen treiben
einen in die Enge: "Was ist, wenn...?" "Sollte ich nicht besser...?" - Nicht
selten bietet die sogenannte Freizeit für die Nerven - geistlich
gesprochen: für den inneren Menschen keine wirkliche Entspannung,
sondern Streß in anderer Form, Streß im Straßenverkehr,
Streß am Fernseher, Streß am Computer. Alkohol, Nikotin oder
Süßigkeiten können die Ruhe nicht ersetzen, die hier fehlt.
- Das bewußte und tiefe Ausatmen bedeutet: Ich lasse los, was meinen
Tageslauf normalerweise bestimmt. Ich nehme Abstand, vom Kreislauf der
Gedanken, Pläne, Wünsche und Sorgen.
Hin zu Dir:
Mit dem Ausatmen lasse ich auch los, was mich von Gott trennt,
von ihm ablenkt. In dem Maße, in dem das AlltagsIch zur Ruhe kommt,
wird Raum für Gott frei. Ich erkenne, daß die Verherrlichung
Gottes der höchste Sinn meines Lebens ist. Jesus wollte mit den ersten
drei Bitten des Vaterunsers zur Verherrlichung Gottes anleiten: Geheiligt
werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe. Gesprochen ist das
in drei Sekunden. Aber wie wird es gelebt? An diesem Punkt setzt die
christliche Meditation ein.
Still vor Dir:
Das Ziel der Gebetsübung ist die Stille vor Gott. Ein
schönes Bild für dieses Zur-Ruhe-Kommen ist die Taucherkugel, die
auf den Meeresboden hinabgelassen wird. Während auf der
Meeresoberfläche der Wind die Wellen vor sich hintreibt, ist davon in
der Tiefe nichts zu spüren. Hier ist Stille. In der geistlichen
Übung wird das Ich von der bewegten Oberfläche des
Tagesbewußtseins in die ruhige Tiefenschicht seines Selbst
geführt. Es bleibt dabei wach und bei sich selbst.
Damit ist nicht nur eine sitzende Versenkung gemeint. Die Stille vor Gott
ist die liturgische Haltung schlechthin. Christlicher Gottesdienst
verträgt sich weder mit innerer Unruhe (z.B. dem Warten auf die
Predigt, auf ein Anspiel oder gar auf den Schluß) noch mit
unbeteiligtem Dösen, noch mit der Hektik eines Liturgen, der
spürbar ein Programm abarbeitet. (Als ob er der Produzent dessen
wäre, worum es im Gottesdienst geht.) Die Kirche empfiehlt deshalb zur
Einstimmung in den Gottesdienst Gerhard Tersteegens Lied "Gott ist
gegenwärtig". In ihm geht es um die innere Sammlung, jene Stille vor
Gott, zu der das betende Atmen führt:
"Gott ist in der Mitte. Alles in
uns schweige und sich innigst vor ihm beuge." (EG 165,1)
Her von Dir:
Ich lebe von Gott her. Daran erinnert das Einatmen. Das Einatmen ist in der
geistlichen Betrachtung nicht ein aktives Einziehen der Luft, sondern ein
Kommenlassen der göttlichen Lebenskraft. Von Gott empfange ich immer
wieder neu den Lebensodem. Ohne ihn bin ich Staub. "Was hast du, das du
nicht empfangen hast?", fragt der Apostel Paulus (1. Kor. 4,7). - Nichts
fällt dem modernen Menschen, dem homo faber, der selber seines
Glükkes Schmied sein will, so schwer wie die Einsicht, daß er
sein Leben und Schaffen Gott ganz und gar verdankt. "Dir uns lassen ganz und
gar" (aus EG 138) lautet deshalb ein anderer Gebetsvers, der für die
christliche Meditation wichtig ist.
Loslassen und konzentriert bleiben
Über das Loslassen müssen wir noch etwas weiter nachdenken, damit
deutlich wird, daß es sich nicht um ein "Dösen auf höherer
Ebene" handelt, wie eine spitze Feder einmal unzutreffend über das
Meditieren schrieb.
Das Tagesbewußtsein wird von den fünf Seelenkräften: dem Verstand, dem Gedächtnis, dem Willen, dem Gefühl und den Sinnen regiert. Der Mensch ist ein denkendes, handelndes, sich erinnerndes, fühlendes und wahrnehmendes Wesen. Er kann seine Seelenkräfte bald angespannt und voller Intensität einsetzen, bald mäßig angestrengt und routiniert gebrauchen oder er versucht abzuschalten, vielleicht ist er auch einmal "weggetreten". Die folgende Übersicht zeigt Umfang und Bandbreite des Tagesbewußtseins:
VERSTAND | angespannt: | denken |
abgeschaltet: | dösen | |
GEDÄCHTNIS | angespannt: | erinnern |
abgeschaltet: | träumen | |
WILLE | angespannt: | handeln |
abgeschaltet: | pausieren | |
GEFÜHL | angespannt: | empfinden |
abgeschaltet: | erstarren | |
SINNE | angespannt: | wahrnehmen |
abgeschaltet: | ertauben |
Was passiert nun beim betenden Atmen? Einerseits nehme ich - ausatmend - von Gedanken, Erinnerungen, Plänen, Empfindungen und Wahrnehmungen Abstand. Ich nehme die Anspannung zurück, aber ich schalte nicht ab, wenn ich meditiere. Es geht nicht um Dösen, Träumen, Pausieren, Erstarren oder Ertauben, - wer beim Meditieren döst oder träumt, verdöst und verträumt auch die Meditation - sondern um eine konzentrierte Übung. Durch das Achten auf den Atem, das Blicken in eine bestimmte Richtung (z.B. auf eine brennende Kerze) und das betende Sprechen wird der Geist daran gehindert, abzuschalten. Dazu gehört auch, daß man am besten nicht in einer "Abfallzeit" meditiert, in der man nichts Rechtes anfangen kann, sondern frisch und ausgeschlafen.
Die Meditationsgruppe in unserer Gemeinde trifft sich deshalb samstags um 8.30 Uhr. Das ist ein Zeitopfer, aber wichtig für ein konzentriertes Loslassen.