Der Aum Shinri-Kyo-Skandal und die Diskussion um die neue Gesetzgebung zur Religion in Rußland

von Andrej Kurajew

Inhalt

  1. Kritik darf nicht als "Anstiftung zu religiöser Zwietracht" diffamiert werden.
  2. Staatliche Aufmerksamkeit muß etwas anderes sein als Protektion für Kulte und Sekten
  3. Staat-Kirche-Verträge mit den traditionellen und regionalen Kirchen und Religionsgemeinschaften
  4. Religiös-politische Organisationen als politische Vereinigungen behandeln

Die Gespräche über die Notwendigkeit, die russische Religions-Gesetzgebung den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen, trafen mit dem Skandal um die japanische Aum Shinri-Kyo zusammen. Der Skandal kann helfen, das Problem besser anzugehen, denn er wirft Licht auf drei wichtige Punkte.

Zunächst einmal wird klar, daß die menschliche Freiheit nicht nur von atheistischen oder theokratischen Staaten bedroht wird, sondern auch von religiösen Gemeinschaften. Daraus ergibt sich in erster Linie, daß die Gesellschaft achtgeben sollte auf die Art, wie Beziehungen innerhalb religiöser Gemeinschaften geformt werden, daß sie sich dafür interessieren sollte, welche Methoden angewandt werden zur Beeinflussung des Gewissens und des tatsächlichen Lebens der Gemeindemitglieder, welche Ziele von der jeweiligen Gemeinschaft angegeben und welche Mittel zu ihrer Durchsetzung für angebracht gehalten werden.

Kritik darf nicht als "Anstiftung zu religiöser Zwietracht" diffamiert werden.

Es ist Zeit, die Tabuisierung der Auseinandersetzung mit Sekten und Kulten aufzugeben. Seit einigen Jahren schon weist die Russische Orthodoxe Kirche darauf hin, daß Rußland und seine Bürger zum Ziel spiritueller Agression im wahrsten Sinne des Wortes geworden sind.

Kirchenführern und kirchlichen Autoren wurde wegen dieses Hinweises "Fanatismus", "Engstirnigkeit" und fast schon "Faschismus" vorgeworfen. Wollen wir hoffen, daß der Aum-Shinri-Kyo-Skandal nun zu der allgemeinen Einsicht verhilft, daß sowohl die Kirche als auch die Presse nicht nur das Recht haben, sondern auch verpflichtet sind, die Aktivitäten der verschiedenen Sekten genau zu beobachten. Nichts ist "undemokratisch" daran, die Menschen vor den Gefahren zu warnen, die die Methoden und Ziele gewisser religiöser Organisationen für sie bedeuten.

Eine beträchtliche Zahl von in Rußland operierenden Sekten nennen sich gern "christlich", obwohl sie tatsächlich nicht christlich sind. Mindestens vier Sektenführer im heutigen Rußland nennen sich "christlich": Shoko Asahara, Wissarion, die Führerin der Weißen Bruderschaft Maria Zwigung und Mun, San Myung, dessen Lehrbuch "Meine Welt und ich" jetzt in Rußland von 50 000 Schullehrern verbreitet wird. Wir sollten hierbei auch die (okkultistisch-theosophischen) Röhrich-Anhänger nicht vergessen zu erwähnen, die behaupten, daß jeder "aufgeklärte" Okkultist sich Christus zugesellen könne.

Um die Menschen vor falschen christlichen Religionen zu schützen, sollte man sie genau auf die Punkte hinweisen, wo Sekten-Doktrinen dem Evangelium zuwiderlaufen. Es könnte helfen, immer wieder Matthäus Kapitel 24 zu zitieren:

"(3 ff.:) Und als er auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger zu ihm und sprachen, als sie allein waren: Sage uns, wann wird das geschehen? und welches wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht zu, daß euch niemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen... (23 ff.:) Wenn dann jemand zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus! oder: da!, so sollt ihr's nicht glauben. Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, so daß sie, wenn es möglich wäre auch die Auserwählten verführten. Siehe, ich habe es euch vorausgesagt.

Wenn sie also zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste! so geht nicht hinaus; siehe, er ist drinnen im Haus!, so glaubt es nicht."

Aber die Diskussion theologischer Probleme in den Massenmedien ruft die folgende Frage an den Gesetzgeber hervor:

Wenn Christen mit der Bibel in der Hand ins TV-Studio kommen und unter Berufung auf das Evangelium erklären, warum Shoko Asahara oder San Myung Mun nicht als Christen gelten können, wäre das auch schon "Anstiftung zu religiöser Zwietracht"? Diese Frage ist ganz und gar nicht nebensächlich, besonders nicht im Lichte des jüngsten Dekrets des Präsidenten "Über Maßnahmen zum Kampf gegen Manifestationen von Faschismus und anderen Formen des politischen Extremismus in der Russischen Föderation", das von der Notwendigkeit entschiedeneren Kampfes gegen Aktivitäten spricht, die auf die Anstiftung zu religiöser Zwietracht abzielen.

Staatliche Aufmerksamkeit muß etwas anderes sein als Protektion für Kulte und Sekten

Der zweite wichtige Faktor, den der Aum Shinri-Kyo-Skandal ans Licht gebracht hat; Nicht nur die Gesellschaft, sondern auch der Staat sollte auf Sekten-Aktivitäten achten. Die Behörden in Japan konnten die Spur der Giftgas-Attentäter innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Beginn der Untersuchung ausfindig machen, weil Aum Shinri Kyo schon lange vor der Tragödie in der Tokioter U-Bahn unter Beobachtung stand. Unglücklicherweise gibt es in Rußland keine Instanz, die die Einhaltung der staatlichen Gesetze durch religiöse Organisationen kontrollieren könnte. Daher sind - gesetzwidrig - Tausende von Schulen in Rußland Stätten von Gottesdiensten, Meditation und religiösen Gebeten geworden, aber diese Tatsache erregt nicht die Aufmerksamkeit der Erziehungsbehörden oder der örtlichen Verwaltung.

Drittens bestätigen sich im Laufe der Diskussion in den Medien über die Aktivitäten von Aum Shinri-Kyo die Berichte, daß Sekten in Rußland sich der Protektion hoher Staatsbeamter erfreuen. Obgleich hohe Funktionäre sich von Zeit zu Zeit in der Nähe des Patriarchen zeigen und sich fotografieren lassen, wodurch sie sogar Anlaß für den Vorwurf einer "Staats-Religion" in Rußland geben, unterstützen sie tatsächlich die anti-orthodoxen religiösen Bewegungen. Aum Shinri Kyo hat in Rußland Anerkennung gefunden in den höheren Rängen der staatlichen Macht und profitiert von der Protektion einflußreicher Persönlichkeiten, die der Sekte Zugriff auf weite Gebiete russischen Landes ermöglichen.... Der Einzug von Aum Shinri-Kyo in Rußland steht in direktem Zusammenhang mit einem der engsten Vertrauten des Präsidenten der Russischen Föderation, der großen Einfluß in den oberen politischen Kreisen Rußlands hat. Es handelt sich um Oleg Lobow, den Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation (S. Agafonow, "Seltsame Verbindungen der -Kreml-Träumer' mit der japanischen Sekte Aum Shinri-Kyo", Izwestija, 28. 3. 1995).

Man sollte festhalten, daß Lobows Unterstützung von Aum Shinri-Kyo keine einmalige Episode in seiner Tätigkeit für den Staat ist. Es handelt sich vielmehr um eine Strategie, die von Lobows Stellvertreter im Sicherheitsrat Wladimir Rubanow als "nationale Neubesinnung Rußlands durch die Ideen der russischen Kosmologie" definiert wurde, also durch die Zuwendung zum Neu-Heidentum. Wladimir Rubanow betont auch, daß sein Hinweis auf die Notwendigkeit eines "post-orthodoxen Bewußtseins" für Rußland ganz und gar nicht zufällig sei: "Der Posten, den ich bekleide, ist ein solcher, daß keine zufälligen Kommentare von mir kommen."

[Foto von Asahara mit russischem Präsidenten]

Asahara erhielt massive politische Förderung von russischen Spitzenpolitikern (von links: Oleg Lobow, Sekretär des Sicherheitsrates des russischen Präsidenten mit Rutzkoy und Asahara)

Foto: Aus Werbematerial von AUM Shinri-Kyo, Archiv BERLINER DIALOG

Lobows Stellvertreter wollte allerdings die Frage, wer im Sicherheitsrat die "Leidenschaft für Kosmologie" mit ihm teile, nicht direkt beantworten, aber er ließ durchblicken, daß diese Ideen Zustimmung in den Kreisen der politischen Macht finden (Oleg Zhirnow: "das ist einmal eine Idee. Eine nationale Idee", Moskowskaja Prawda, 14. 3. 1995).

Die Eröffnung des "Instituts der Neokosmologie (!)" durch das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation ist durchaus symptomatisch. Sie fand am 9. November bei der konstituierenden Sitzung in der früheren Politischen Akademie der Bewaffneten Streitkräfte statt. Dem Institut ist die "Analyse der theosophischen Auffassung persönlicher Entwicklung und der Spiritualität des Individuums (!)" übertragen. Der Rektor der Akademie nahm an dem Seminar teil, das vom 4. bis 7. Oktober 1994 in einer außerhalb Moskaus gelegenen Villa des Verteidigungsministeriums durchgeführt wurde. Während des Seminars wurde der Munbewegung das Angebot gemacht, das Lehrbuch "Der Soldat und seine innere Welt" zu schreiben. (Vgl. Update in vorliegendem Berliner Dialog 2)

Die Verwicklung der russischen Staatskreise in Sektenaktivitäten zeigt sich nicht nur deutlich in der Metropole, sondern auch in Provinz-Zentren. Zum Beispiel war die Verwaltung von Jekaterinburg (einer Stadt, die für die politische Elite des heutigen Rußlands von beachtlicher Bedeutung ist) nur am Rande an dem von der örtlichen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche veranstalteten Seminar über "Totalitäre Sekten" interessiert, der Leiter der Erziehungsabteilung Nazarow nahm nur zehn Minuten lang teil. Gleichzeitig veranstaltete die Erziehungsabteilung das Seminar "Meine Welt und ich" für Schullehrer und -direktoren.

"Meine Welt und ich" ist ein von der MunSekte zusammengestelltes Lehrbuch für Ethik und Religionsgeschichte. Die Lehren dieser Sekten-Religion sind Unterrichtsgegenstand in siebzig Schulen in Jekaterinburg (Wertschernij Jekaterinburg, 29.3.1995).

Wir brauchen vernünftige Grundsätze einer staatlichen Politik gegenüber den Religionsgemeinschaften

Der Aum Shinri-Kyo-Skandal hat gezeigt, wie dringlich notwendig es ist, die Prinzipien der staatlichen Politik gegenüber der Religion und die Art dieser Prinzipien auszuarbeiten.

Man sollte zuerst einmal beachten, daß Religionspolitik lediglich auf der bestehenden Legislation beruht, die die Grenzen der Kooperation zwischen staatlichen Stellen, zum Beispiel Schulen, und einzelnen Sekten bestimmt, aber diese Politik darf sich nicht auf diese Gesetzgebung beschränken. Daraus ergibt sich, daß wir Kriterien brauchen, die die Basis für eine solche Kooperation abgeben können. Da staatliche Stellen vom Geld des Steuerzahlers unterhalten werden, sollten sie sich erstens in ihrer Einstellung zu einer bestimmten religiösen Organisation vom Anteil dieser Organisation an der Bevölkerung leiten lassen. Zweitens sollte man bedenken, daß die Gleichheit aller Religionen vor dem Gesetz nicht gleichbedeutend ist mit ihrer Gleichheit vor der Geschichte und der Kultur Rußlands.

Ausgehend von diesen beiden Prinzipien, sollte der Staat seine Einstellung zu verschiedenen Konfessionen öffentlich bekanntmachen. Es sollte eine Liste all der Sekten und Kulte erstellt werden, deren Tätigkeit in Rußland von vornherein verboten werden sollte.

Die Entscheidung über das Verbot einer Sekte sollte von einem Gerichtshof getroffen werden, wenn festgestellt worden ist, daß sie zum Beispiel grundlegende Menschenrechte verletzt oder eindeutig unmoralische Ideen predigt und praktiziert. Da die meisten Sekten aus dem Ausland zu uns kommen, sollten wir bei der Festlegung unserer Einstellung zu ihnen die Erfahrungen anderer Länder berücksichtigen. Wenn zum Beispiel die Sekte "Kinder Gottes", die Kindersex praktiziert, im westlichen Europa verboten ist, bzw. nur aus dem Untergrund agiert, sollten wir ihren russischen Ableger mit dem Namen "Familie" ebenfalls verbieten bzw. polizeilich untersuchen.

Falls der Staat nicht der Ansicht ist, eine Sekte oder ein Kult sei gefährlich für die Gemeinschaft oder einzelne Personen, aber Gründe hat, ihr nicht bedingungslos zu vertrauen, sollte er klarstellen, daß er nicht mit der besagten religiösen Organisation zusammenarbeiten will. Der Staat sollte seinen Bediensteten empfehlen, solchen Sekten und Kulten keine Unterstützung angedeihen zu lassen, er sollte die Massenmedien daran hindern, die Sekten-Lehren zu verbreiten, er sollte Schulen, Büchereien und Filmtheatern verbieten, ihnen Versammlungsraum zu überlassen oder überhaupt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sogar wenn zum Beispiel das Gericht in Japan Aum ShinriKyo rechtfertigen sollte und das Gericht in Rußland keine stichhaltigen Gründe für ihr Verbot finden sollte, müßte der Staat seinen Ämtern künftig empfehlen, sich von der Sekte fernzuhalten.

Staat-Kirche-Verträge mit den traditionellen und regionalen Kirchen und Religionsgemeinschaften

Es wäre wünschenswert, wenn der Staat klare Kooperationsverträge mit den bei den russischen Völkern traditionellen Konfessionen abschlösse: Orthodoxe Kirche, Islam, jüdische Gemeinden. Kooperation sollte hier bedeuten: koordinierte Lehrpläne für Schulen (wo Schulfächer sich mit den Lehrern und der Geschichte dieser Religion befassen); freie TV- und Radiozeit für Predigten; Programme für Kooperation in den Streitkräften, Gefängnissen und Krankenhäusern; koordinierte Beteiligung des Staates an der Wiederherstellung von Kirchen, Moscheen und Synagogen, die kulturell und historisch wertvoll sind. In Regionen, die hauptsächlich von Menschen anderer religiöser Traditionen bevölkert werden, sollten gleichartige Kooperationsprogramme mit den örtlichen Konfessionen abgeschlossen werden.

Was die anderen Konfessionen angeht, die in gutem Ruf stehen, aber in Rußland nicht traditionell heimisch sind, so sollte der Staat die Bedingungen schaffen, die für ihre unabhängige Tätigkeit notwendig sind. Wenn sie es wollen, mögen sie TVund Radiozeit kaufen, mit den staatlichen Schulen zusammenarbeiten, wenn Eltern, Lehrer und Schüler dem zustimmen, staatliche Versammlungsräume (außer Schulen) auf eigene Kosten für Gottesdienste, Vorträge und Diskussionen mieten, und so fort...

Diese erwähnten Prinzipien zielen ab auf die weitere Entwicklung der russischen Staatspolitik bezüglich Religion, deren Aufbau 1990 mit der Annahme des Gesetzes "Über die Freiheit des Gewissens" begann, sie erfordern keine ernsthaften Änderungen dieses Gesetzes.

Religiös-politische Organisationen als politische Vereinigungen behandeln

Was das Gesetz "Über die Freiheit des Gewissens" selbst angeht, schlage ich nur eine Ergänzung vor: Wenn eine religiöse Organisation politische Ziele verfolgt, sollte sie als politische Organisation angesehen werden. Wir halten eine religiöse Organisation für politisch, wenn sie ihre Aufgabe letztlich in der Errichtung einer neuen Ordnung auf der Erde sieht.

Unter diesen religiös-politischen Organisationen finden wir zum Beispiel jene para-christlichen Sekten, die die Idee des "Chiliasmus" (eines "tausendjährigen" Reiches Christi, das errichtet werden soll bis zum Ende der Zeit und ausdrücklich auf Erden) predigen, in erster Linie die Sekte "Zeugen Jehovas" und die "Vereinigungskirche" der Mun-Bewegung.

Entsprechend der Verfassung und der russischen Gesetzgebung sollte solchen religiösen Organisationen die staatliche Unterstützung entzogen werden und ebenso das Recht, finanzielle Unterstützung aus dem Ausland zu beziehen.

Übersetzung: Guntram Thilo, Berlin

Diakon Andrej Kurajew, 32,
ist Dekan der philosophischen und philologischen Fakultät an der Russisch-Orthodoxen Universität Moskau

Foto: Thomas Gandow

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