Jean-Jacques Mazier, langjähiger Präsident der Scientology-Filiale in Lyon, wurde am 22.11.96 zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren (die Hälfte davon ohne Bewährung) und einer Geldstrafe von FFr 500 000 (ungefähr DM 150 000) verurteilt. Andere angeklagte Scientologen (darunter ein katholischer Priester, der den Grad OT 8 erreicht hat) erhielten geringere Strafen: Gefängnis mit Bewährung, kleinere Geldstrafen. Die Geschichte: Am 24. März 1988 nahm sich Patrice Vic, ein junger technischer Zeichner, Vater von zwei Kindern, das Leben. Er hatte seit einem halben Jahr - durch den "Oxford-Capacitytest" - Scientology kennen gelernt, war dem "Ruin" nah erklärt worden und wurde wiederholt "auditiert". Es ging ihm jedoch nicht besser, sondern immer schlechter. Es wurde ihm dringend geraten, sich einem "Reinigungs-Rundown" zu unterziehen. Jeden Abend wurde er zu Hause angerufen. Doch hatte er bereits sein ganzes Geld bei Scientology ausgegeben.
Kein Problem: Er sollte doch ein Bankdarlehen aufnehmen. Eines Abends ging Scientology-Chef Mazier mit ihm nach Hause und drängte ihn: die Fr 30 000 solle er am nächsten Tag von seiner Bank leihen, seine Frau solle mit ihrem Gehalt bürgen. Frau Vic weigerte sich: "Das ist doch reiner Wahnsinn!" antwortete sie. Als Mazier endlich gegangen war, war der junge Vater völlig durcheinander, er konnte nicht schlafen - und stürzte sich vom 12. Stock ins Leere. Die verzweifelte Witwe reichte ein paar Monate später eine Klage bei der Anwaltschaft ein. Die Untersuchung dauerte fünf Jahre.
Die Scientology-Niederlassungen in Lyon, aber auch in Paris wurden auf Befehl des Untersuchungsrichters polizeilich durchsucht. Ergebnis: 25 dicke Aktenbände. Gefunden wurden auch Goldbarren (Teil des "Kriegsschatzes" der Scientology), interessante Bankauszüge, und aufschlußreiche, täglich vom OSA (Geheimdienst der Scientology) in Los Angeles gefaxte Befehle, sowie die Berichte der französischen Filiale. Scientolgy wandte ihre gewohnte Verzögerungsstrategie an. Für die französische Justiz war das neu, aber sehr lehrreich.
Antrag auf Antrag wurde eingereicht, der Untersuchungsrichter sollte disqualifiziert werden, Polizisten wurden verklagt - alles ohne Erfolg. Ein psychiatrischer Gutachter wurde bei der Ärztekammer angezeigt - auch das scheiterte. Er wurde bespitzelt, bei seinen Nachbarn verleumdet, seine Post wurde gestohlen ... er verklagte Scientology - und gewann. Immerhin war die Untersuchung schon seit zwei Jahren abgeschlossen - und der erste Richter im normalen Verlauf seiner Karriere auf einen anderen Posten versetzt worden (der neue mußte sich mühsam durch das Dickicht der Akten kämpfen), als endlich ein Termin für die öffentliche Gerichtsverhandlung festgesetzt wurde: Sie fing am 30. September an und dauerte bis zum 8. Oktober.
Herr Vic war seit 8 1/2 Jahren tot. Außer Frau Vic hatten 29 andere Scientology auf Betrug und seelische Nötigung verklagt. Im Laufe der Jahre war es Scientology gelungen, die meisten zu überzeugen, ihre Klage gegen einen finanziellen Vergleich zurückzunehmen. Die standhaften sieben schilderten ihren Leidensweg recht anschaulich. Die Angeklagten saßen unbeweglich da, tauschten mal einen Blick und ließen ein überlegenes Lächeln über ihre Lippen spielen. Sie bereuten nichts; nicht einmal der Priester, der inzwischen von seinem Bischof in eine entlegene Landgemeinde versetzt worden ist, drückte der Witwe ein Bedauern aus.
Scientology hatte vor und während der Gerichtsverhandlungen eine riesige PR-Kampagne in Lyon inszeniert: Scharen von Scientologen waren erschienen, es gab "Tage der offenen Tür", Aushändigung von Werbebroschüren, ja sogar für die zahlreichen anwesenden Journalisten Geschenkpakete mit einem 800 Seiten dicken Luxusdruck mit den Wundertaten Ron Hubbards und der Scientology, geschmückt mit Farbfotos der "Celebrities" - natürlich John Travolta, Tom Cruise, Chick Corea, Julia Migenes, u.a.m. - den Gutachten der "Reisegefährten", denen zufolge Ron Hubbard auf eine Stufe mit den größten Philosophen aller Zeiten zu stellen sei, wenn nicht etwas höher, der größte Wohltäter der Menschheit usw., dazu eine Videokassette.
Auf Pressekonferenzen wurden die Kritiker der Scientology auf die gewohnte Weise angegriffen, als Fanatiker, Hexenjäger, ja als Nachfolger der Gestapo. Eine internationale Verschwörung von verbrecherischen Psychiatern, Interpol und das von diesen bösen Mächten initiierte Netz von nichtwissenschaftlichen "Antisekten"gruppen sei gegen Scientology ins Feld gezogen, würde aber am Ende besiegt werden. Auch die Medien seien von dieser finsteren Macht vereinnahmt worden. Von großem Interesse waren auch die Zeugen für Scientology, darunter Bryan Wilson (England), Frank A. Flynn (Washington, D.C.) und natürlich der Italiener Massimo Introvigne, der sich als "konservativen Katholiken" bezeichnet; er ist Gründer und Direktor von "CESNUR" (Zentrum für das Studium Neuer Religionen), das seit diesem Jahr international geworden ist; der andere Direktor ist jetzt der Amerikaner Gordon Melton aus Kalifornien, der sich damit unsterblich gemacht hat, daß er kurz nach dem AUM-Terroranschlag in der Tokioter U-Bahn von den noch nicht verhafteten AUM-Führern nach Japan eingeladen wurde und der japanischen Presse mit großem Ernst erklärte, AUM und sein Guru seien nur Opfer einer allem Religiösen feindlich gesinnten Polizei und Regierung.
Er und seine drei amerikanischen Freunde hätten eine kleine Tour unter Führung der Sektenältesten durch die Einrichtung gemacht ... In Lyon ist Gordon Melton nicht erschienen, um das Gericht aufzuklären. Jedenfalls halten sich diese Herren und ihre Freunde für die größten Religionssoziologen der Welt. Introvigne zeichnete sich auch durch Feingefühl aus, als er überlegen lächelnd erklärte: "Selbstmord? Wieviel Selbstmorde gibt es bei der Französischen Polizei oder in den italienischen Priesterseminaren?"...
Nach einer sechs Wochen langen Überlegungsfrist erkannte das Gericht Mazier des Totschlages schuldig: Seine Handlungen seien die "direkte Ursache" des Todes von Herrn Vic gewesen. Die 23 Angeklagten mußten die Verlesung des 72 Seiten langen Urteils über sich ergehen lassen, das strenger ist, als die Anträge des Staatsanwaltes, der nur ausgesetzte Freiheitsstrafen gefordert hatte. Die zwei Pariser Bosse der Scientology wurden freigesprochen, weil sie an den vorliegenden Straftaten nicht direkt beteiligt waren. Marc Bromberg, jetziger Sprecher der Scientology in Frankreich (und "Reverend") erklärte, dies sei ein "politisches Urteil", ein Erfolg für "die psychiatrischen und Anti-sekten-Lobbies". Es wurde sofort Berufung eingelegt. Es besteht kaum Zweifel, daß Scientology bis zur höchsten Instanz gehen wird.
Die Pariser Scientology ist zwar pleite und konnte keinen Centime ihrer Schulden gegenüber Steueramt und Sozialversicherung bezahlen (Fr 50 Millionen), kann sich aber die teuersten Anwälte leisten. Die Untersuchung hatte auch die enormen Summen ans Licht gebracht, die Scientology regelmäßig an die Zentrale in Kopenhagen abführt - über das Bank- und Steuerparadies Luxemburg (Kreditbank), (z.B. in den 3 Jahren 88-91 aus nur einem von mehreren Konten in Paris Fr 15 Millionen. In Lyon allein hatte Scientology etwa 15 Konten bei verschiedenen Banken. Und der Priester hat gestanden, Geld für Scientology über die Grenzen gebracht zu haben.) Hier hatte die Untersuchung auch zur Folge, eine Masse von strafbaren Handlungen - besonders finanzieller Art, aber auch auf dem Gebiet der Einflußnahme und Bespitzelung - ans Licht zu bringen. Diese Entdeckungen werden noch Folgen haben. Dabei sind die Scientologygeschäfte in Frankreich bei weitem nicht so saftig wie in Deutschland.