Physik und New Age

Können sich New Age, Parawissenschaften und Esoterik auf die moderne Physik stützen?

von Martin Lambeck

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Capras Erben. Die Astrologin Teissier und die Elektronenzwillinge
  3. Franz Mosers Beweis für Unsterblichkeit
  4. Die "Frohe Botschaft" vom wissenschaftlichen Rückhalt der Parapsychologie
  5. Gardner und die riechenden Teilchen
  6. Stellungnahme
  7. Zenon von Elea und die Schildkröte
  8. Elektronenzwillinge im Atom-U-Boot?
  9. Anthropologische Wurzeln des Glaubens an Korrelationen
  10. Literatur


Einleitung

Wissenschaftlich erscheinende Argumentationen aus dem Bereich der Physik sollen die Behauptungen der New-Age-Bewegung bestätigen. Besonders physikalische Laien zeigen sich durch angeblich wissenschaftliche Beweise für die weltanschaulichen Positionen der New-Age-Bewegung beeindruckt. Martin Lambeck untersucht in einer Serie für den BERLINER DIALOG die behaupteten Verbindungen. Im dritten Beitrag unserer Serie "Physik und New Age" geht es um weitere, aus dem EPR-Paradoxon abgeleitete Mißverständnisse einiger Capra-Adepten und die anthropologischen Wurzeln des Glaubens an Korrelationen.

Capras Erben. Die Astrologin Teissier und die Elektronenzwillinge

Am 13. Juni 1989 fand in der Urania in Berlin eine Diskussion statt zwischen der Astrologin Madame Teissier und dem Astronomen Herrn Herrmann zum Thema: "Astrologie - Wissenschaft oder Aberglaube?" Darüber berichtete der Berliner "Tagesspiegel" am 25. Juni 1989:

"Frau Teissier betonte ihre Überzeugung von einer kosmisch-irdischen Einheit, in der wir alle stehen und der wir unterworfen sind. Sie warf der Astronomie und ihrem Vertreter Herrmann vor, rein mechanistisch zu denken und den Kosmos nicht als Ganzes zu sehen. Herrmann widersprach. Und in der Tat geht die moderne Kosmogonie der Astronomen von einem ganzheitlichen Universum aus. Besonders in der Atomphysik, ohne deren Kenntnis keine Theorie über die Weltentstehung (Kosmogonie) aufgestellt werden kann, zeigt sich die Welt als Ganzes. Zwei negativ geladene Elektronen stoßen einander ab und enteilen in entgegengesetzter Richtung ins All. Beide rotieren wie die Erde um eine Achse, das eine Elektron links und das andere rechts. Und beide Achsen stehen zueinander parallel, zum Beispiel beide senkrecht oder beide waagerecht. Wenn eines der beiden Elektronen in eine irdische Apparatur mit einem starken Magnetfeldgerät, kippt seine Achse um. Dann muß auch die Achse des schon weit entfernten anderen Elektrons sich drehen, um die parallele Lage der beiden Achsen aufrechtzuerhalten. Das besagt die kaum widersprochene Theorie der "Elektronenzwillinge". Die Achse des anderen enteilten Elektrons, das durch keine irdische Apparatur beeinflußt wurde, muß sich auch dann drehen, wenn es schon in der Entfernung des Mondes oder sogar des Andromedanebels steht. Was jedoch zwischen diesen beiden Elektronen wirkt, wissen wir nicht."

Hierzu ist mindestens zu bemerken, daß die Experimente von Aspect keinen Schluß auf Fernwirkung zulassen. Außerdem kommt hier aber hinzu, daß die Astrologie noch mehr behauptet. Sie behauptet nicht nur, daß die Stellung der Gestirne einen Einfluß auf das Geschehen auf der Erde habe, sie behauptet mehr: Dieser Einfluß soll nicht für alle Menschen gleich sein, sondern er soll für alle individuellen Menschen verschieden sein, und zwar nach Maßgabe ihres Geburtsdatums. Die Photonen müßten also nicht nur entsprechend der Planetenkonstellation auf die Erde eilen, sondern jedem Menschen auch noch sein Geburtsdatum ansehen können. Wie sie das fertig bringen sollten, vermag ich der Quantentheorie nicht zu entnehmen.

Franz Mosers Beweis für Unsterblichkeit

In seinem Buch "Bewußtsein in Raum und Zeit - Die Grundlagen einer holistischen Weltauflassung auf wissenschaftlicher Basis" [gr. holos = ganz] [12] versucht Franz Moser, seine weltanschaulichen Aussagen auf die Quantentheorie, das Bellsche Theorem und die Aspect-Experimente zu stützen. Die Angemessenheit dieses Verfahrens wird im folgenden an einigen Beispielen verdeutlicht.

Zur Rolle des Beobachters sagt Moser: "Das Wesentliche ist: Der Beobachter, also sowohl der experimentierende Physiker als auch jeder die Welt erlebende Mensch, ist zu jeder Zeit Teil des beobachteten Systems." [12 S.76]. Ich warte vergebens auf die Mitteilung, Moser selbst sei schon einmal Bestandteil eines typisch quantenmechanischen Systems, z.B. eines Lasers oder eines Elektronenmikroskops gewesen.

Aus dem Bellschen Theorem schließt er: "Ändert man den Spin eines Elektrons, auf welche Weise auch immer, dann ändert sich der Spin des anderen so, daß der Gesamtspin wieder Null ist. Wir nehmen nun an, wir könnten das System dieses Elektronenpaares räumlich sehr weit voneinander trennen, indem wir z.B. das eine Elektron auf den Sirius schießen würden, der 9 Lichtjahre von der Erde entfernt ist.

Das andere Elektron wäre dann in entgegengesetzter Richtung ebenfalls 9 Lichtjahre von der Erde entfernt. Wir nehmen nun weiters an, ein Experimentator auf dem Sirius würde den Spin des dortigen Elektrons verändern, dann ergibt sich die Frage, was geschieht mit dem anderen Elektron?

Auf Grund des Einsteinschen Realitätsverständnisses würde man sagen: Da die Lichtgeschwindigkeit die maximal mögliche Informationsgeschwindigkeit ist, dauert es 18 Jahre, bis das Signal der Spinänderung vom Sirius zum anderen Meßpunkt gekommen ist.

Auf Grund eines quantenmechanischen Realitätsverständnisses müßte man jedoch annehmen. daß eine instantane Änderung des Spins bei dem vom Sirius 18 Lichtjahre entfernten Elektron eintritt. Das bedeutet die Aufgabe des Einsteinschen Lokalitätsprinzips. Einfach ausgedrückt: Es gibt keine räumliche Separierbarkeit der Realität. "[12 S.88.89]. Schließlich dehnt er seine Folgerungen aus dem EPR-Paradoxon auch auf die Makroebene aus:

"Die Versuche zur Überprüfung des EPR-Paradoxons zeigen eindeutig, daß die Vorstellung von "Lokalität" oder "Separabilität" d.h. der gegenseitigen Nichtbeeinflussung weit voneinander entfernter Objekte, zumindest im Mikrobereich, also bei Elementarteilchen, nicht zutrifft. Alle diese Objekte stehen in einem fortwährenden instantan wirkenden Vernetzungszusammenhang. Da aber alle Objekte der Makroebene aus Objekten der Mikroebene aufgebaut sind, muß man annehmen, daß diese Instantan-Vernetzung auch für die Makroebene gilt [12 S.92]

Angesichts einer derartig unbekümmerten Übertragung der Quantenphysik auf die Makroebene drängt sich mir die Frage auf: Elektronen können als Teilchen durch zwei Spalte gleichzeitig gehen. Kann auch Herr Moser ein Zimmer mit zwei Türen durch diese beiden Türen gleichzeitig betreten?

Ferner gibt er eine besonders beeindruckende Deutung der Aspect-Experimente, nämlich im bezug auf die Unsterblichkeit des Menschen.

"Das Prinzip der Erhaltung der Energie, d.h. der Erkenntnis, daß bei keinem physikalischen, chemischen oder biologischen Vorgang Energie verloren gehen oder geschaffen werden kann, ist eines der Grundgesetze der Naturwissenschaft... Wenn nun Bewußtsein ... eine Form von Energie ist, so scheint es unumgänglich, auch auf diese Energieform den Energieerhaltungssatz anzuwenden.

Für den Prozeß beim Tod eines Lebewesens ergeben sich ... bezüglich der Bewußtseinsenergie zwei Möglichkeiten: l) Diese kann beim Tode dissipieren, d.h. in der Energie der Umwelt verteilt werden..., 2) Diese kann ... als selbständige Energie- Informationsstruktur weiterexistieren.

Letztere Hypothese kann als Basis für die Ansicht von der Möglichkeit des Fortlebens nach dem Tode für Menschen gewertet werden. Diese Hypothese [vom Fortleben des Menschen nach dem Tode] wird außerdem gestützt durch das Experiment von Alain Aspect... Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit ist die Frage des Lebens nach dem Tode - die Unsterblichkeit des Menschen - mit wissenschaftlichen Mitteln und experimentell bestätigt. Das ist die große Bedeutung des EPR-Paradoxons und des Aspect-Experiments. Die logische Argumentationsfolge ist schlüssig:

  1. Energie kann nicht verloren gehen.
  2. Das menschliche Bewußtsein hat Energieinformationsstruktur.
  3. Diese Energiestruktur ist zeitinvariant, weil es die Dimension der Zeit in der Energie- Bewußtseins-(EB)-Realität nicht gibt." [12 S.259,259]

Hierzu ist zu sagen, daß dieser Schluß mindestens schon deshalb falsch ist, weil Energie nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für Leben ist (auch eine Handgranate hat Energie). Zum Leben gehört wenigstens noch Information (die richtige Anordnung der Atome). Für Information aber gibt es keinen Erhaltungssatz.

Die darüber hinaus gehende Behauptung, das Bell-Theorem und die Aspect-Experimente bewiesen die Unsterblichkeit des Menschen, erscheint mir angesichts der Fragestellung der Bell'schen Arbeiten und der Technik der Aspect-Experimente geradezu absurd. Diese Arbeiten befassen sich nicht einmal mit Mäusen, geschweige denn mit Menschen.

Die "Frohe Botschaft" vom wissenschaftlichen Rückhalt der Parapsychologie

Der Klappentext zu Mosers Buch sagt: "Es gilt daher, ein neues, holistisches Weltmodell zu entwerfen, welches sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der Quantentheorie, stützt. Von diesen wagt der Autor den Brückenschlag über Metaphysik und Parapsychologie zu den Grundweisheiten der Weltreligionen. Ein atemberaubendes Unterfangen, das in seinem erkenntistheoretischen Ansatz weit über Heisenberg, Weizsäcker und sogar Capra hinausreicht."

Der Aussage "sogar Capra" ist zuzustimmen. In der Zeitschrift "Mensch, Natur, Gesellschaft" rezensiert Ernst Meckelburg Mosers Buch mit den Worten: "Es ist schon einer jener seltenen Fälle, daß ein erfahrener Naturwissenschaftler und Technologe in der Wissenschaftsphilosophie ebenso zu Hause ist wie in Grenzbereichen der Psychologie - ein Umstand, der ihn wie nur wenige dazu befähigt, den Weg für ein neues Paradigma, eine holistische Weltschau, zu bereiten.

... Er stellt der mechanistischen Weltauffassung ein holistisches Weltmodell gegenüber, in dem es grundsätzlich keine Trennung zwischen Subjektivem und Objektivem gibt. Alles ist irgendwie miteinander verbunden und der Beobachter wird zu einem festen Bestandteil des beobachteten Systems. Schwer vorstellbar, aber nach den "nach allen Seiten offenen" Gesetzen der Quantenphysik durchaus realistisch. Und die hieraus resultierende neue, mit dem menschlichen Bewußtsein eng verflochtene, transzendenzoffene Physik vermag nicht nur physikalische Ungereimtheiten, sondern auch das gesamte Spektrum des Paranormalen zu erklären.

... Parapsychologie und Paraphysik haben endlich einen wissenschaftlichen Rückhalt, die ihnen gebührende Anerkennung gefunden. Die 'Frohbotschaft', daß beide integrierende Bestandteile einer um die Bewußtseinskomponente erweiterten modernen transzendierenden Physik sind, geht bezeichnenderweise von den Naturwissenschaften selbst aus - gewissermaßen als späte "Wiedergutmachung". Welch triumphaler Erfolg für alle, denen die Entmystifizierung des geistigen Prinzips schon immer ein Anliegen war."'[13]

Gardner und die riechenden Teilchen

Helga Maria Gardner, Herausgeberin der Zeitschrift "Mensch, Natur, Gesellschaft" bezieht sich auf die Aspect-Experimente zur Quantenmechanik und zitiert Bücher von Nick Herbert, Franz Moser und Fritjof Capra. Unter der Überschrift "Der experimentelle Nachweis überlichtschneller Informationsübermittlung in der Natur" schreibt sie:

"John Stewart Bell ... ist der Erfinder des Theorems der wechselseitigen Abhängigkeit der Teile der Natur, das Nicht-Lokalität als allgemeinen Zug der Realität nachweist. D er Beitrag des Bellschen Theorems besteht darin, daß Nicht-Lokalität als ein notwendiges Merkmal der tieferen Realität klar dargelegt wird." [14 S.43] Gardner entwickelt diese Ideen weiter bis zu einem vollständigen Modell der Welt einschließlich der Evolution der Lebewesen. Dies führt zu den Schlagzeilen: "Die Zeitphase eines Selbstorganisationszyklus erschlossen aus der überlichtschnellen Informationsübermittlung zwischen Teilchen und aus der Lichtgeschwindigkeit". "Raumorientierung und Denkprozesse der Teilchen, auf denen die Weltordnung beruht". [14 S.52]

Gardner begründet ihre Aussagen so: "Wie finden die subatomaren Teilchen aber ihre Bahnen und ihre Raumorientierung, auf der ja die gesamte Weltordnung beruht? Der zeitgenössische Quantenphysiker Nobelpreisträger Richard Feynman, der einen großen Ruf als bedeutende Autorität der Physik besitzt, befaßte sich eingehend mit dem Problem, wie Lichtteilchen gerade den kürzesten, richtigen Weg finden.... Richard Feynman fragt nun: Wie findet ein Teilchen den richtigen Weg? Müssen wir annehmen, daß das Teilchen beschließt, den richtigen Weg einzuschlagen? "Beriecht" es die benachbarten Wege, um ihn herauszufinden? Feynman gelangt zu folgendem Resultat: "Trifft es zu, daß das Teilchen nicht einfach "den richtigen Weg nimmt", sondern nach allen anderen möglichen Bahnen Ausschau hält?... Das Rätselhafte ist natürlich, daß es genau das tut."" [14 S.52]

Gardner gibt für dieses Feynman-Zitat keine Fundstelle an. Um dem Leser ein eigenes Urteil zu ermöglichen, nenne ich die Fundstelle [15]. Der Leser wird feststellen, daß dort das Wort "riechen" nur in symbolischer Weise gebraucht wird. Der gesamte Textzusammenhang zeigt, daß Photonen oder Elektronen keineswegs riechen oder denken können, sondern daß das Finden des kürzesten Weges eine Folge der Überlagerung von Wellen ist, also rein "mechanistisch" gedeutet wird.

"Mensch Natur Gesellschaft" ist keine der Zeitschriften, die man in der Apotheke oder Drogerie umsonst bekommt; sie tritt mit hohem wissenschaftlichen Anspruch auf. Laut Impressum wirken an dieser Zeitschrift nicht weniger als 12 Akademiker, zum Teil in sehr hohen Positionen, mit. Gardner stützt ihre Ausführungen ferner auf Kant und gibt als Zitat an: Kant: Kritik der reinen Vernunft, - ohne eine Seitenangabe! Die Kritik der reinen Vernunft - das sind 552 Seiten eines extrem schwer zu lesenden Textes! Dies ist der Versuch, die Fehlerhaftigkeit der eigenen Argumentation durch Berufung auf eine Autorität zu verschleiern.

Im übrigen wird nicht unterschieden zwischen Lehrbuchphysik und spekulativen Ansichten einzelner Autoren z.B. Bohm. Physik wird vermischt mit Philosophie, insbesondere deutscher idealistischer Philosophie und romantischer Naturphilosophie - ohne Berücksichtigung des geistesgeschichtlichen und religiösen Hintergrundes. Auf irgendwelche Realisierungen der Behauptungen (Geist im Elektron, Fernwirkung usw.) wird keine Rücksicht genommen. Die Pseudowissenschaft im Stile Gardners bedient sich der Erkenntnisse der Wissenschaft, biegt diese aber durch sinnentstellendes Zitieren in eigene Weltanschauung um.

Stellungnahme

Ich behaupte nun, daß Capra und seine Nachfolger das Bellsche Theorem falsch interpretiert haben. Das ist eine Behauptung, die ich beweisen muß. Zu diesem Zwecke tue ich das Einfachste und Sicherste, was man tun kann, was aber alle anderen Autoren unterlassen: Ich gehe zu den Quellen; ich zitiere Bell selbst. Das Bellsche Theorem lautet im Original: "In einer Theorie, in der zur Quantenmechanik Parameter hinzugefügt werden, um das Resultat individueller Messungen zu determinieren, ohne die statistischen Voraussagen zu ändern, muß es einen Mechanismus geben, durch den die Einstellung eines Meßgerätes die Anzeige eines anderen Instrumentes beeinflussen kann, wie weit auch dieses entfernt sein möge. Darüber hinaus muß das zugehörige Signal sich unendlich schnell ausbreiten, so daß eine solche Theorie nicht Lorentz-invariant sein könnte. Natürlich ist die Lage anders, falls die quantenmechanischen Voraussagen eine begrenzte Gültigkeit haben. Es ist denkbar, daß sie nur für Experimente zutreffen, bei denen die Einstellung der Instrumente so rechtzeitig vorgenommen wird, daß sie in eine wechselseitige Beziehung treten können, indem sie Signale austauschen, deren Geschwindigkeit gleich der des Lichts oder geringer ist. In dieser Hinsicht sind Experimente der von Bohm und Aharonov vorgeschlagenen Art, bei denen die Einstellungen während des Fluges geändert werden, von entscheidender Bedeutung.a [16]

In einfacheres Deutsch übersetzt heißt das: Um die Unbestimmtheitsrelation durch verborgene Parameter zu überwinden, braucht man einen Mechanismus mit überlichtschneller Informationsübertragung (Fernwirkung). Dann ist die Relativitätstheorie (die dieses verbietet) falsch. Natürlich ist die Lage anders, falls die Quantentheorie nur für langsam durchgeführte Experimente gilt, für Hochgeschwindigkeitsexperimente jedoch nicht. Daher sind die von Bohm und Aharonov vorgeschlagenen Hochgeschwindigkeitsexperimente entscheidend.

Nun wird klar, wie das Bellsche Theorem aufgebaut ist: Es besteht aus zwei Teilen. Der zweite Teil ist eine Aufforderung an die Experimentalphysiker, die Quantentheorie noch härter zu prüfen als bisher. Als Ausgang dieser Experimente gibt es zwei Möglichkeiten:

a) Die Quantentheorie verliert unter diesen verschärften Bedingungen ihre Gültigkeit. Dann muß entsprechend den Versuchsergebnissen neu nachgedacht werden.

b) Die Quantentheorie behält auch unter diesen Bedingungen ihre Gültigkeit. Dann folgt aus dem ersten Teil, daß verborgene Parameter nur dann in die Theorie eingebaut werden können, wenn es einen Mechanismus der Fernwirkung gibt, der der Relativitätstheorie widerspricht. Die Hochgeschwindigkeitsexperimente von Aspect [17] und alle später durchgeführten Versuche stehen in Übereinstimmung mit der Quantentheorie. Also kommt der erste Teile des Bellschen Theorems zum Tragen.

Bell hat niemals behauptet, die Relativitätstheorie sei falsch; wie jeder andere Physiker geht er von ihrer Richtigkeit aus. Dann ist der erste Teil des Bellschen Theorems eine reductio ad absurdum, ein Beweis durch Widerspruch: Weil die Einführung verborgener Parameter eine Femwirkung bedingen würde, die der Relativitätstheorie widerspricht, gibt es eben keine verborgenen Parameter, und die Resultate individueller Messungen sind nicht determiniert, d.h. die Unbestimmtheitsrelation bleibt bestehen.

Zenon von Elea und die Schildkröte

Capra und seine Nachfolger haben diese Zweistufigkeit der Argumentation und die reductio ad absurdum ihren Lesern nicht nahegebracht. Sie haben vielmehr das, was Bell als Absurdum voraussetzt, als positive Aussage verwendet.

Machen wir uns diese Verwechslung eines Absurdum mit einer positiven Behauptung an einem Beispiel klar, das schon aus der Antike bekannt ist: Tausend Schritte vor uns spaziert eine Schildkröte. Jetzt startet der schnelle Achilles und wird sie in kurzer Zeit einholen. Nein, sagt Zenon von Elea (490-430 v. Chr.), wenn Achilles die Hälfte des Weges zurückgelegt hat, hat sich ja auch die Schildkröte weiterbewegt, Achilles muß auch von diesem Weg wieder einen Teil zurücklegen. Auch in dieser Zeit hat sich die Schildkröte weiterbewegt usw. Also kann Achilles die Schildkröte niemals einholen.

Hat Zenon damit bewiesen, daß Achilles die Schildkröte nicht einholen kann? Nein, er hat nur bewiesen, daß der Schluß: «Wenn ich unendlich oft addiere, erhalte ich unendlich viel", falsch ist. Daß eine Reihe mit unendlich vielen Gliedern eine endliche Summe haben kann, wissen wir erst seit Leibniz, Euler und Gauß. Die Analogie zur Behandlung des Bellschen Theorem durch Capra wäre also die Behauptung, in Griechenland könnten auch die schnellsten Läufer die Schildkröten nicht einholen. Zu derartigen Fehlinterpretationen hat Bell selbst deutlich genug Stellung genommen (a und b sind die Einstellungen der Analysatoren, A und B die Meßwerte, lambda hypothetische verborgene Parameter).

"Aber selbst wenn wir es so einrichten, daß a und b durch zwei offenbar zufällige radioaktive Präparate erzeugt werden, die in getrennten und dick abgeschirmten Kästen untergebracht sind, oder durch die Maschinen der Schweizer staatlichen Lotterie oder durch sorgfältig ausgearbeitete Computer-Programme oder durch Experimentalphysiker mit offensichtlich freiem Willen oder durch irgendeine Kombination all dieser Maßnahmen, können wir nicht sicher sein, daß a und b nicht wesentlich durch dieselben Faktoren lambda beeinflußt werden, die A und B beeinflussen. Aber diese Möglichkeit, die quantenmechanischen Korrelationen einzurichten, wäre noch schwerer verständlich (more mind boggling) als eine. in der Kausalketten sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten. Offenbar getrennte Teile der Welt wären tiefgreifend und verschwörerisch miteinander verwickelt und unser offensichtlich freier Wille wäre mit ihnen verwickelt."[18]

Die Verbindung getrennter Teile der Welt untereinander und mit unserem freien Willen durch EPR-Phänomene wäre für Bell also noch schwerer verständlich als eine Verletzung der Relativitätstheorie, der am besten gesicherten Naturbeschreibung, die ein Theoretiker kennt. Das ist genau das Gegenteil der Aussagen von Capra und aller seiner Nachfolger, die behaupten, sich auf Bell stützen zu können. Capra und seine Nachfolger behaupten immer wieder: Wird der Spin eines Elektrons gedreht, dann dreht sich instantan (gleichzeitig, d.h. ohne Berücksichtigung der Lichtgeschwindigkeit) auch der Spin des korrelierten Elektrons, selbst wenn sich dieses schon in astronomischen Entfernungen befindet. Der Ur-Irrtum besteht darin, die Aspect-Experimente so zu interpretieren, als sei eine Spin-Messung an einem Paar von Elektronen bzw. Photonen möglich. Wäre dies so, dann wäre in der Tat die Spezielle Relativitätstheorie, die dieses verbietet, widerlegt. Nach den Voraussagen der Quantentheorie und in Übereinstimmung mit allen bisher durchgeführten Experimenten ist eine solche Messung mit einem Paar von Elektronen jedoch nicht möglich. Stattdessen müssen immer viele Teilchen beobachtet werden. Diese Tatsache und die Notwendigkeit, die Messungen statistisch auszuwerten, zerstört jede Möglichkeit der Informationsübertragung. Man hört in beiden Empfängern nur Rauschen.

Daher ist nach dem heutigen Kenntnisstand festzustellen: Was auch immer der sogenannte nichtlokale Aspekt oder der Begriff der "Korrelation" in der Quantenphysik oder Philosophie bedeuten möge: Man kann nichts damit anfangen! Man kann damit weder Signale senden noch Ereignisse beeinflussen. - Der nichtlokale Aspekt ist in keiner Weise für irgendeinen Zweck nutzbar! Damit scheitern auch alle oben genannten Behauptungen, aus dem EPR-Paradoxon könne auf einen ganzheitlichen (holistischen), mystisch-einheitlichen oder vernetzten Aufbau der Welt geschlossen werden.

Elektronenzwillinge im Atom-U-Boot?

Selbstverständlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, die EPR-Korrelationen zur Informationsübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit zu verwenden, da ein solches Verfahren von höchstem wissenschaftlichem und technischem Interesse wäre.

Es ist bekanntlich ein schwieriges Problem, Befehle von der Kommandozentrale an getauchte U-Boote zu übermitteln; dies wäre jedoch von lebenswichtiger Bedeutung für die kernwaffentragenden U-Boote der Supermächte. Naheliegende Anwendung der EPR-Korrelationen wäre also, ein Elektron in das Pentagon bzw. den Kreml, das andere in ein U-Boot zu setzen. Entsprechend den genannten Zitaten brauchte dann der Präsident nur sein Elektron zu drehen, um über den Elektronenzwilling eine Nachricht an sein U- Boot zu übertragen. Der Wunsch aller Militärs: eine Nachrichtenverbindung, die nicht störbar und nicht abhörbar wäre!

Der bekannteste Vorschlag, diese Effekte für superluminale Übertragungen zu verwenden, wurde von Nick Herbert unterbreitet [19]. Fairerweise hat er die Widerlegungen seines Vorschlages selbst mitgeteilt [20 S.331,332] und [21,22].

Anthropologische Wurzeln des Glaubens an Korrelationen

Capra und seine Nachfolger können sich also weder auf irgendein jemals ausgeführtes Experiment noch auf Äußerungen von Bell oder Aspect berufen. Warum also halten sie an ihren Meinungen fest, obwohl die Physik und die Autoritäten dagegen sprechen und warum werden ihre Behauptungen, die der experimentellen Erfahrung widersprechen, offensichtlich von einem großen Publikum geglaubt? Hierüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Ferguson weist auf ein Buch von Nick Herbert hin. Dieser verwendet als ein Kapitelmotto [20, S.277] den Satz

"Die Magie der Übertragung beruht auf der Annahme, daß Stoffe, die einstmals verbunden waren, fortwährend verknüpft bleiben; daher wird eine Handlung, die auf eine kleinere Einheit ausgeübt wird, auf die größere Einheit einwirken, obwohl beide Einheiten physisch voneinander getrennt sind. (Sir James Frazer)

Es ist auffällig, daß Herbert für diesen Satz, den er offenbar zustimmend zitiert, keine Fundstelle angibt; der Leser erfahrt weder etwas über Sir James Frazer noch über den Zusammenhang, in dem dieser Satz steht. Ob Herbert diesen Zusammenhang kannte, oder ob ihm ein Konkurrent diesen Satz wie ein Kuckucksei eingeschmuggelt hat, weiß ich nicht. Mein Suchen ergab: Es handelt sich um den britischen Anthropologen Sir James Frazer (1854-1941) und ein Zitat aus seinem Buch "Der goldene Zweig". [23]

"Der andere große Zweig der sympathetischen Magie, den ich Übertragungsmagie genannt habe, geht über zu dem Gedanken, daß Dinge, die einmal verbunden waren, für alle Zeiten, selbst wenn sie völlig voneinander getrennt sind, in einer solchen sympathetischen Beziehung zueinander bleiben müssen, daß, was auch immer dem einen Teil geschieht, den anderen beeinflussen muß. So ist die logische Grundlage der Übertragungsmagie ... eine mißverstandene Ideenassoziation. Das bekannteste Beispiel von Übertragungsmagie ist die magische Sympathie, die bestehen soll zwischen einem Menschen und irgendeinem von ihm getrennten Teil seiner Person, z.B. seinen Haaren oder Nägeln, so daß jeder, der in den Besitz von menschlichen Haaren oder Nägeln kommt, auf jede Entfernung seinen Willen diesem Menschen gegenüber durchzusetzen imstande ist. Dieser Aberglauben ist über die ganze Welt verbreitet."

Literatur

[1]-[11] siehe BERLINER DIALOG 2-95 und 3-95.

[12] Moser, F: Bewußtsein in Raum und Zeit - Die Grundlagen einer holistischen Weltauffas- sung auf wissenschaftlicher Basis. Leykam Buchverlagsgesellschaft. Graz 1989.

[13] Meckelburg, E.: Vorstöße in eine größere Realität. Mensch, Natur, Gesellschaft Jg. 7, H. III (1991) S. 68

[14] Gardner, H.M.: "Welttheorie Teil VIII: Das Innere der Materie" in: Mensch, Natur, Gesellschaft Jg.9 H. l (1992)

[15]Feynman, R.P., Leighton, R.B., Sands, M.: The Feynman Lectures on Physics. Addison-Wesley Publishing Company. (1963). zitiert Band I, Seite 26-7. Siehe auch Band II, Kapitel 19 und Feynman, R.: The Character ofPhysical Law. The M.I.T. Press (1965) S. 52

[16] Bell, J.S.: On the Einstein-Podolsky- Rosen-Paradox. Physics l (1964) S.195-200

[17] A.Aspect, J. Dalibard, G. Roger: Experi-mental Test of Bells Inequalities Using Time-Varying Analyzers. Phys. Rev. Lett. Vol.49, p. 1804(1982)

[18] Bell, J.S.: Bertimann's Socks and the Na-ture of Reality. Journal de Physique Colloque C-2, Supplement au n3, Tome 42 (mars 1981) page C2-57

[19] Herbert, N.: FLASH - A Superluminal Communicator Based upon a New Kind of Quantum Measurement. Foundations of Physics 12,1171 (1982).

[20] Herbert, N.: Quantenrealität - Jenseits der Neuen Physik. Birkhäuser Verlag. Basel.Bo-ston (1987)

[21] Wooters.W.K. and Zurek.W.H.: A Single Quantum cannot be Cloned. Nature 299,802 (1982).

[22] Mandel, L.: Is a Photon Amplifler Always Polarization Independent? Nature 304,188 (1983)

[23] Frazer, J.G.: Der Goldene Zweig (The golden bough) Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker. C.L. Hirschfeld Verlag Leipzig 1928 S.53,54

Prof. Dr. Martin Lambeck

Prof. Dr. Martin Lambeck, 60, ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des BERLINER DIALOG. Seit 1970 Professor am Fachbereich Physik der TU Berlin.


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