Leitartikel: Die neue Weltreligion

von Johannes Aagaard
  1. Die neue Religion und die alten Religionen
  2. Die Religion des weltlich gewordenen Menschen
  3. Euphorie und Mangel an Ernsthaftigkeit
  4. Bagatellisierung der Bedeutung der neuen Religion
"Neue Religiöse Bewegungen" können als verschiedene Erscheinungsformen einer neuen, bisher namenlosen Weltreligion verstanden werden. Zusammen mit dem Islam wird sie im nächsten Jahrtausend die wichtigste Alternative zum Christentum sein.

Neureligiosität kann in verschiedener Weise interpretiert werden. Niemand hat bisher die endgültige Erklärung des Phänomens gegeben, aber es gibt mehr oder weniger begründete Beschreibungen des Wesens und Inhalts der Neureligiosität.

Nach mehr als 25 Jahren intensiver Beschäftigung mit neuen Religionen, weltweit von Japan bis Paraguay, von Indien bis Kalifornien und von Rußland bis England ist mir klargeworden, daß sie trotz ihrer vielen Unterschiede eine zusammenhängende, neue Religion repräsentieren.

Diese neue Religionsform steht im Gegensatz zu den klassischen Weltreligionen, einschließlich Hinduismus und Buddhismus. Gleichzeitig hat sie aber auch starke Wurzeln in diesen beiden Religionen. Und sie hat zwei andere Wurzeln - eine im westlichen Okkultismus und eine (von eher bescheidenem Umfang) im Christentum. Aber der Baum, der von diesen Wurzeln getragen wird, ist eine wirkliche Neubildung. Alle vier Wurzeln führen zu einem neuen Baumstamm, wo eine radikale Umformung der Eigenheiten der Wurzeln stattfindet.

Die neue Religion und die alten Religionen

In den klassischen Hindureligionen und im alten Buddhismus wird Karma als "das Gemachte" verstanden, das, was das weltumspannende Schicksalsrad, Samsara, im Gang hält. Und sowohl Götter wie Menschen fürchten Samsara wie die Hölle selbst.

In der neuen Religion dagegen ist Karma eine Art Investition, die den Aufstieg der Menschen über die Himmelsleiter der Entwicklung ermöglicht.

In den klassischen asiatischen Religionen ist "gutes" Karma mehr als "schlechtes" Karma gefürchtet, weil es mehr als das schlechte Karma "bindet". Aber in der neuen Religion ist es entscheidend wichtig "schlechtes Karma" zu vermeiden und "gutes Karma" zu investieren. Dies hängt sehr eng zusammen mit "liberalem" Denken, und dem dominierenden Einfluß, den der politische Liberalismus errungen hat.

Die neue Religion ist in markanter Weise eine politische Religion, die wie angegossen zu dem modernen kapitalistischen System zu passen scheint. Wie der moderne Kapitalismus denkt die neue Religion in Werten, Investitionen und Wachstum. Sie verhält sich quantitativ zum Leben.

Deshalb ist der Ausgangspunkt der alten asiatischen Religionen - die Greuel des Samsara, des Kreislaufs von Geburt und Tod - ersetzt durch die Seelenwanderung als Banalisierung des Todes. Der Ausdruck "Seelenwanderung" hat an sich nur wenig Sinn, denn infolge der alten Ideen des Orients von Samsara ist es eben nicht eine "Seele", die wandert, sondern der göttliche, unveränderliche Atman hinter der menschlichen Seele. Oder es ist mehr oder weniger nur eine karmische Illusion, die wandert, so wie es der Buddhismus lehrt.

Die Religion des weltlich gewordenen Menschen

Die neue Religion ist - mit anderen Worten gesagt - eine vollständige Umformung, eine Transformation der klassischen Religionen des Ostens. Diese Umformung darf nicht als bloße Anpassung infolge ihrer "Missionsaktivitäten" oder als Anpassung zur besseren "Ausbreitung nach dem Westen" mißverstanden werden. Denn die neue Religion macht sich ja auch breit in den Heimatländern der klassischen Religionen, wo man sorgfältig vermeidet, die durch sie bewirkte Banalisierung der ursprünglichen Gedanken und Lebensauffassungen der traditionellen Religionen zur Kenntnis zu nehmen.

Eine der ernsthaftesten Banalisierungen, die aus der neuen Religion folgt, ist die Zersetzung des Schutzes gegen Verfälschungen. Es gibt keine Qualitätsgefühle in der neuen Religion. Alles ist gleich gut. Die neue Religion präsentiert sich als ein Selbstbedienungsbuffet, wo jeder selbst seine Mahlzeit nach Belieben zusammenstellt. Es gibt kein festes Menu - aber gerade das ist eben das feste Kennzeichen dieser Religion, daß es keine markierten Grenzen geben darf.

Darum ist es völlig neben der Sache, wenn gewisse Religionswissenschaftler behaupten, die neue Religion sei ein Protest gegen die Säkularisierung. Im Gegenteil: Die neue Religion ist gerade die einzigartige Ausformung der Religiosität in der säkularisierten Gesellschaft. Sie hat so großen Erfolg, weil sie die "Religionisierung" des säkularisierten, des angeblich weltlich gewordenen Menschen ist. Hier kann der säkulare Mensch seine eigene "Göttlichkeit" als Gipfel seiner eigenen Macht, seiner eigenen Intelligenz, seiner eigenen Fantasie erleben.

Warum gebe ich "der neuen Religion" in diesem Artikel keinen Namen? Weil sie noch keinen hat. Sie ist die Ausgestaltung einer anonymen Religiosität, und darum ist sie vom Wesen her anonym. Das ist ihre entscheidende Stärke, daß die Menschen ihr selbst den Namen, den sie mögen, geben können. Die neue Religion ist wie ein Spiegel. Man guckt rein und sieht immer nur sich selbst.

Euphorie und Mangel an Ernsthaftigkeit

Der deutsche Theologe Karl Barth sagte einmal von der "liberalen Theologie", daß sie glaube, sie rede schon von Gott, wenn sie vom Menschen mit feierlicher Stimme rede. Das trifft auch überaus gut auf die neue Religion zu. Sie hält sich völlig innerhalb der eigenen Möglichkeiten des Menschen. Auf den meisten Gebieten des Lebens präsentiert sie eine ganz unseriöse Form menschlicher Überbewertung. Deshalb ist sie von Euphorie geprägt - alles ist nur gut, es gibt kein Böses, selbst der Tod ist eine Illusion. Der Mangel an Realitätsbezug ist das eigentümlichste Erlebnis, das die neue Religion bietet. Man ist bereit, was auch immer zu glauben, wenn es bloß nicht echt ist.

Der echte, erdnahe Respekt des Christenglaubens vor dem Tod und die Auferstehungshoffnung und Menschenliebe des Christenglaubens sind dagegen weit entfernt von der neuen "Spiritualität", wie die Anhänger der neuen Religion ihr Kauderwelsch von Mythen und Fabeln nennen. Doch ist es ein konstanter Zug an der neuen Religion und ihren Vertretern, daß sie sich an die Kirchen heranrobben möchten, um sich im kirchlichen Raum geltend zu machen. In den meisten Kirchengemeinden gibt es ja inzwischen auch Menschen, sogar Geistliche, die sich vom Interesse der neuen Religion beein- drucken lassen, ein Teil des kirchlichen Systems zu werden. Immer wird es Menschen geben, die den neuesten religiösen Modetrends hinterherrennen, und die neueste Mode ist nun einmal die neue Religion. Das soll uns nicht dazu verleiten zu glauben, daß diese Mode wieder vorübergeht. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Weltreligion nicht wieder verschwinden kann. Das ist noch nie in der Religionsgeschichte geschehen.

Bagatellisierung der Bedeutung der neuen Religion

In den Jahrhunderten, als der Islam vorwärts drängte, gab es viele, die ihn bagatellisierten. Das macht heute kaum jemand mehr. Aber viele versuchen, die neue Religion zu bagatellisieren. Auf der einen Seite weisen sie darauf hin, daß "New Age ... unser moderner Volksglaube geworden ist ...", und gleichzeitig behaupten sie, daß "die neuen Bewegungen kein Ausdruck einer besonderen Form von Religiosität sind".

Die Erklärung dafür, daß manche Religionswissenschaftler sich so widersprüchlich ausdrücken können, liegt sicherlich darin, daß sie selbst ja ein Teil der Wirklichkeitsauffassung der neuen Religion sind. Tatsächlich fungieren sie sogar als Agitatoren der neuen Religion. Agitation wirkt am besten, wenn man nicht aufmerksam ist. Dazu muß man "Zulassen" schaffen statt "Aufmerksamkeit", indem man sich zum Fürsprecher der neuen Religion als eines "natürlichen und volkstümlichem Bestandteils unserer Gegenwart" macht und gleichzeitig ihren religiösen Einfluss herunterspielt. Auf diese Weise fördert man (vielleicht ohne es zu wissen) ihre "frohe Botschaft", daß jeder von jetzt an selbst seinen Glauben und seine Wirk- lichkeit wählt.

In einem Land nach dem anderen finden wir dieselbe Situation, nämlich die neue Religion in beständigem Wachsen und mit stets größerem Einfluß - gestärkt und gestützt von sogenannten Religionswissenschaftlern, die einerseits für sie agitieren und sie andererseits bagatellisieren. Diese Eigentümlichkeit ist wichtig für den Erfolg der neuen Religion. Es gibt gute Chancen dafür, daß sich diese Religion schon vor dem Jahr 2000 als die einzige wirkliche Alternative zum christlichen Glauben etabliert haben wird - ein- mal abgesehen vom Islam.

Islam und "die neue Religion" werden die entscheidende Herausforderung für das Christentum im kommenden Jahrtausend sein.

Übersetzung: Lisbeth Storm

Johannes Aagard, 66, ist Missionswissenschaftler in Aarhus, Dänemark. Er ist einer der Pioniere der Erforschung der "New Religious Movements" in Europa und Initiator des Dialog Center International, dessen Präsident er ist. Kulte wie Scientology haben Aagaard auf ihrer "Feindliste", während er in den Kirchen Europas als anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Neuen Religionen gilt.

Foto: Frank B. Schmidt

Bild: Berliner Oktober-Seminar 1995 unter der Schirmherrschaft des Bischofs von Berlin-Brandenburg, Prof. Dr. Huber

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