Das Geheimnis des Sonnentempels

"Kein Selbstmord im menschlichen Sinne"

von Thomas Gandow
  1. Der OTS: Ein New-Age-Orden
  2. Die drei Stufen des Sonnentempels
  3. Religiöse Motive und ihre Ausbeutung
  4. Der vorbereitete Weltuntergang
  5. Der Schalldämpfer und das Gericht
  6. Das dekretierte Sterben
  7. Das Los von Verrätern und Unbeteiligten
  8. Abschiedsbriefe sollen den Eindruck des Selbstmordes bestätigen
Erneut ist es im Feld von destruktiven Kulten zu einer Massentötung gekommen.Immer deutlicher zeigen die Untersuchungen, wie wenig "freiwillig" die Opfer in den Tod gegangen sind, unter ihnen auch Kinder und Kleinkinder. Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Abschottung von der Gesellschaft und damit totale Verfügbarkeit, völliges Ausgeliefertsein an einen skrupellosen Führer sind nun auch mitten im zivilisierten Europa sichtbar geworden. Vergleichbare grausame Taten in Südamerika, den Philippinen oder in Texas schienen an den passenden exotischen Orten stattzufinden und entsprachen eher der Vorstellung, die man sich in der Öffentlichkeit von "fanatischen religiösen Wahngruppen mit apokalyptischen Ideen" macht. Auch auf christliche Gruppen fiel da -unberechtigterweise nicht wenig Kritik ab. Jedoch handelt es sich bei den Hintergründen des OTS nicht um christlich-apokalyptische Motive:

Der OTS: Ein New-Age-Orden

Denn die Gruppe um den New-Age-Doktor Luc Jouret, der Sonnen-Templer"Orden", war keine (christliche) Sekte oder Gemeinschaft. "Areligiös, apolitisch und egalitär" wollte man sein. Schon die benutzten Namen geben ein Bild von der Ausrichtung, aber auch der Breite der vorgetragenen Angebote, sie reichen vom heute allgemein bekannten "Sonnentempel-Orden" bzw. "Ordre Temple Solaire (OTS)" über eine "Acadeß[mie de recherche et de la connaissance des hautes sciences (ARCHS)" (etwa: Akademie zur Erforschung und Kenntnis der Hohen Wissenschaften) bis hin zur "Landwirtschaftsfarm für Forschung und Kultur" und einem "Forschungsbetrieb für makrobiotische Gärtnerei". Der Führer und eigentliche Gründer des OTS, Luc Jouret, wurde am 18. Oktober 1947 im damaligen Belgisch-Kongo (Afrika) geboren und studierte in Brüssel/Belgien bis 1974 Medizin. Zugleich soll er sich für alle möglichen esoterischen Wissenschaften, für Yoga und Gurus, philippinische Geistheiler, Astrologie und geheime Künste interessiert haben. Zunächst als praktischer Arzt tätig, wirkte Luc Jouret Anfang der achtziger Jahre als homöopathischer Heiler zunächst in der Schweiz und Frankreich (aber dann und wann auch in Belgien, Kanada, Luxemburg und der Schweiz). Auch unter seinen Patienten konnte er manche Adepten rekrutieren. Denn schon damals wird von einer erstaunlichen Ausstrahlung auf seine Patienten und vor allem seine Patientinnen berichtet. Später beginnt er, Bild: Immer wieder Sterben für den Führer: Massenselbstmord des Peoples Temple des Jim Jones am 18.11.1978, Guyana. Foto: Archiv DCI Patienten für seine Organisation zu werben, indem er seinen Nimbus als Heiler ausnutzt. Immer wieder soll er Patienten gesagt haben, er habe sie von Krebs geheilt, ohne ihn wären sie daran gestorben usw.. 1982 übernimmt er die Macht in dem damals noch unbedeutenden OTS (damaliger Name anscheinend noch: "Erneuerter Templer-Orden"). In kurzer Zeit wandelt er den Pseudoorden in eine strikt auf ihn ausgerichtete Geheimorganisation um. Der OTS war ein typischer, esoterischer New-Age-"Orden". Er weist Elemente einer Ideologie oder Lehre auf, die aus allen möglichen esoterischen, religiösen und okkulten Quellen, vor allem aber aus der theosophischen und rosenkreuzerischen Richtung gespeist ist. Kurz gesagt stellt der OTS eine pseudotemplerische, in Wirklichkeit rosenkreuzerische Geheimloge dar, die nach außen als eine der vielen New-Age-Organisationen auftrat, die sich für das "Wassermannzeitalter" einsetzen. Über eine Reihe von Stufen wurde man mit der Geheimlehre erst vertraut gemacht: Während in den Einstiegsgruppen noch Nächstenliebe, die Werte des "wahren" Christentums und Umweltschutz gepredigt wurden, wurde in den höheren Rängen ein Licht- und Kraftmenschentum als Schulungsziel propagiert. Da ist dann die Rede von der "Großen weißen Loge des Sirius" und den "Sieben Wesenheiten der großen Pyramide von Gizeh", von den "Dienern des Rosenkreuzes", das nichts mit dem christlichen Kreuz und auch nicht mit der Rose der christlichen Symbolik zu tun hat, sondern auf die "Geheimen" Einweihungen hindeutet.

Die drei Stufen des Sonnentempels

Jouret selbst betätigte sich nach außen hin im Rahmen seiner "Amenta"- bzw. "Atlanta"-Organisation u.a. als Veranstalter von esoterischen Vorträgen mit Themen wie "Das Kind und seine Zukunft angesichts der Umweltverschmutzung", "Liebe und Biologie", "Medizin und Gewissen" oder auch "Das Unternehmen und das Chaos"; immer wieder kehrten auch Vorträge über die Schaffung des "Neuen Menschen". Vor und nach seinen Vorträgen habe er auch Bücher und Kassetten mit seinen Ratschlägen "wie man körperliche und emotionale Macht" erlangen könne, verkauft (AFP 6.10.94). BioBauernhöfe, Bio-Brotverkauf, Vorträge über Waldsterben und Umweltschutz gehörten zu den "exoterischen" zu den nach außen gerichteteten Lockaktivitäten. Es gab das Versprechen, durch solche "lebensreformerischen" Aktivitäten Atomkrieg und Umweltverschmutzung gemeinsam auf einer alternativen Überlebensfarm mit biologischem Anbau und bei gesunder Ernährung zu überwinden, geleitet von "rosenkreuzerischen" Idealen und "Spiritualität". Wie in vielen NewAge-Gruppen gehörten auch sogenannte Managementkurse zum Angebot. Topmanager großer Konzerne wie "Hydro-Quebec" (ein kanadischer Elektrizitätskonzern) wurden von Luc Jouret in "Neues Denken" eingeführt. Als zweite Stufe gab es dann als engeren Kreis einen Club "L'association internationale des Club Archedia, Sciences et Traditions" mit Vorträgen und geselligen Veranstaltungen, der über gesellschaftliche Kontakte überleitete in den inneren Zirkel. In diese dritte Stufe des als Geheimsystem organisierten "Ordens", den eigentlichen OTS wurden besonders auch einflußreiche und vermögende Mitglieder eingebunden und von den Ordensoberen abhängig gemacht. Die Mitglieder - jedenfalls die jetzt getöteten- kamen vor allem aus Kreisen des frankophonen Kanadas und der Schweiz. Darunter waren u.a. der Bürgermeister eines Städtchens in der Nähe von Montreal, eine bekannte Journalistin vom Journal de Quebec und ein Berater des Finanzministeriums von Quebec. Eine ganze Reihe der Mitglieder des "Ordens" rekrutierte sich aus dem Energie-Konzern "Hydro-Quebec". Von der Unternehmensleitung wurde bestätigt, daß mindestens 17 der Angestellten Mitglieder im OTS seien. Immer neue Mitglieder aus gutsituierten Kreisen wurden in die Gruppe hineingeworben, die Exklusivität, ein bißchen Extravaganz und auch Abenteuer versprach; die Mitglieder des Pseudo-Ordens trugen als Ordenskleidung "Rittermäntel" (Capes) mit dem templerischen Tatzenkreuz. Das Tatzenkreuz scheint auch das Abzeichen der einfachen Mitglieder gewesen zu sein. Daneben gab es auch das von einem S umwundene T im ovalen O (als großes Brustschild eines Doppeladlers) - anscheinend für höhere Ränge des "Ordens". In der Gruppe wurde ein regelrechter Kult um Luc Jouret als Guru getrieben. Seine Worte waren Gesetz. Es kam zur Zusammenführung von Partnern in sogenannten "kosmischen Ehen"; vor und bei den Ritualen der Gruppe in ihren mit Spiegeln ausgestatteten Ritualräumen kam es zu Sexualverkehr zwischen dem Ordensmeister Luc Jouret und den Frauen der Mitglieder; Berichten zufolge wurde gelegentlich auch eine Frau gezwungen, mit allen Mitgliedern zu verkehren. Man feierte alle möglichen Rituale, hatte feierliche Veranstaltungen und angeblich auch eine als "Messe nach essenischem Ritus" bezeichnete Handlung.

Religiöse Motive und ihre Ausbeutung

An ihrem Geltungsbedürfnis, aber auch an ihrem Idealismus und ihren Schwierigkeiten mit der Welt gepackt, hatten die Mitglieder des OTS nicht nur ihre Entscheidungsfreiheit an die "Führer" abgetreten, sondern auch Geld und Vermögen. Denn die Ordensoberen brauchten Geld, viel Geld für hochedle Zwecke wie die Rettung der Welt und die Verbesserung der Menschheit, wobei freilich zunächst Lebensstil und Radius der Ordensoberen angehoben und erweitert wurde - ohne daß dies das Hauptmotiv gewesen sein dürfte. Wichtiger ist wohl, daß auch unbekannte Summen in noch nicht völlig aufgedeckte Aktivitäten des OTS flossen. Die starke Beanspruchung der Mitglieder wurde u.a. damit begründet, daß sie besonders erwählt seien und zu den "100 Familien" gehören würden, die zum Überleben der Menschheit gebraucht würden. Ehemalige beschrieben den zunehmenden Druck in der Gruppe. Manchen gelang es, sich zu lösen. Ein ehemaliges Mitglied beschrieb sich als "völlig ausgesaugt" und ihren Austritt wie die Flucht aus einem Gefängnis. Die meisten Ehemaligen wollten aber bisher über ihre Erfahrungen vor Scham und vor Angst nicht sprechen.

Der vorbereitete Weltuntergang

1987 war es bereits einmal zu lebhaften Weltuntergangsvorstellungen gekommen. Dadurch wurden Mitglieder auf Jourets Anwesen in Kanada.a. zum Eigenbau eines atombombensicheren Bunkers motiviert. Der Bunker war von den Mitgliedern mit allem Lebensnotwendigen, einschließlich 45 Kilogramm Schweizer Schokolade ausgestattet worden. Aber die Atomangst war nur eine Episode; später diente der angebliche Bunker unter der Backstube der Farm einfach als Lagerkeller. Dafür gab Jouret Anfang der neunziger Jahre nun die Parole aus, die Mitglieder müßten sich bewaffnen.

Der Schalldämpfer und das Gericht

Im Zusammenhang mit den dafür erforderlichen Waffenkäufen kam es zur Überwachung der Gruppe durch die kanadische Polizei und sogar zu einem Gerichtsverfahren. Jean-Pierre Vinet, Projektleiter des Energiekonzerns Hydro-Quebec, und Herman Delorme, Versicherungsmakler waren wegen verbotenem Waffeneinkauf verhaftet worden. Am 30. Juni 1993 hatten sie sich vor dem Gericht fürPAGE 27 schuldig erklärt, aber versichert, der "OTS" habe mit der Angelegenheit nichts zu tun. Gegen den "Orden" war dann in Kanada nichts mehr unternommen worden, da die Angeklagten die Schuld auf sich nahmen und versichert hatten, dem Verein nicht mehr anzugehören. Ehemalige sagten dazu "das ist eine klassische Methode. Jeder hat seinen Austrittsbrief in der Tasche. Wenn er verhört wird oder verhaftet wird, sagt er, daß er seit geraumer Zeit aus dem 'Orden' ausgetreten ist. In Wirklichkeit hat er bereits einen höheren, streng geheimen Rang erreicht." (Le Soleil, Quebec 7.4.1993) Im Sommer 1993 präsentierte sich dann auch Jouret als bloßer "Ex-Leader" des OTS. Zunächst war er nach Europa geflohen, jedoch stellte er sich am 15.7., nachdem seine beiden Anhänger bereits zu bloßen Bewährungsstrafen verurteilt waren, in Montreal dem Gericht. Anschließend wurde er sofort wieder auf freien Fuß gesetzt. Er hatte ausgesagt, er habe die Waffe für jemand anderes kaufen lassen, der sein einsam gelegenes Tagungszentrum vor den häufigen Einbrüchen schützen sollte. Den (verbotenen) Schalldämpfer habe man sich nur besorgt, um beim Übungsschießen nicht die Nachbarn zu stören. Aus abgehörten Telefongesprächen wußte die Polizei, daß Jouret auch Frauen unter seinen Mitgliedern aufgefordert oder gar gezwungen hatte, schießen zu üben. Schon vor einem Jahr war aber auch die Rede davon, daß Waffen und Schießkünste in der Schweiz benötigt würden, weil man dort in einsamen Hdusern lebe. Die ganze Waffengeschichte wurde schließlich als "Sturm im Wasserglas" heruntergespielt. Jouret wurde gegen eine Spende von 1000 Kanad. $ und mit einem Jahr Bewährungsfrist ohne Eintragung in das Vorstrafenregister wieder auf freien Fuß gesetzt. Er kehrte unverzüglich zurück in die Schweiz.

Das dekretierte Sterben

Am 5. und 6. Oktober kam es zu den Massentötungen in Kanada und zwei Orten in der Schweiz. Die Einzelheiten sind aus der Tagespresse bekannt. Zur Vertuschung des Ablaufs der Tötungen gab es mit Zeitschaltuhren versehene Heizgeräte, die Brände auslösen sollten. Diese Maßnahmen, durch die die Unterschiede zwischen den offensichtlich Ermordeten und den mehr oder weniger freiwillig Getöteten verwischt werden sollten, wurden mit "einem von der Großen Weißen Loge des Sirius erlassenen Dekret" begründet. Man habe sich entschlossen, "freiwillig alle Heiligtümer der Geheimen Häuser zum Bersten zu bringen, damit sie nicht profaniert werden können durch Betrüger und Unwissende". Die über 50 Getöteten, darunter auch Kinder, die bei dem angeblich freiwilligen Übergang durch "Einspritzungen" oder "Infusionen" anscheinend "starker Mittel", aber auch durch Schüsse ums Leben kamen, wurden in unterschiedlichem Zustand aufgefunden. Einige der Toten hatten Plastiksäcke über dem Kopf, die um den Hals mit einer Schnur oder mit Klebeband zugedreht waren. Auch trugen Tote mantelähnliche rote und weiße Kultgewänder, die Frauen goldene Festkleider. Bei einigen der Toten waren die Hände zusammengebunden (SZ 7.10.94). Zumindest generell lassen die Umstände, so sorgfältig sie auch arrangiert wurden, zum Teil auf Kampf, zum Teil auf krampfhaft inzenierte "Transitfeierlichkeit" schließen. In einem der Abschiedsdokumente heißt es daher an die Wahrheit grenzend: "- daß wir unseren Transit bei vollem Bewußtsein und ohne jeden Fanatismus geplant haben, der in keiner Weise ein Selbstmord im menschlichen Sinne des Wortes ist". Der Wahrheit noch ndher kommt man wohl, wenn man davon ausgeht, daß nur einige wenige freiwillig Mord und Selbstmord auf sich nahmen, daß einigen anderen aber sehr konkret "geholfen" wurde: "Unser bewußter und freiwilliger Übergang reißt alle diejenigen mit sich, die, bewußt oder nicht, an dieser noblen Erbschaft teilnehmen und die in sich das christische ('christic') Feuer in einer lebenden Form akzeptieren".

Das Los von Verrätern und Unbeteiligten

Die Vorstellung, die elitäre Führung der Menschheit zu sein und die Skrupellosigkeit, alles machen zu dürfen ("Wir versichern hier, daß wir in Wirklichkeit durch eine höhere Ordnung beauftragte Verfechter der Gerechtigkeit sind") verleitete aber nicht nur zur als "Übergang" getarnten Selbstzerstörung der eigenen Gruppe, sondern berechtigte auch zur Durchsetzung der eigenen Maßnahmen nach außen. So sind einige der Opfer wohl regelrecht als "Verräter" oder "Versager" hingerichtet worden. Der OTS dekretierte in einer "letzten Botschaft" drohend und rechtfertigend: "Diejenigen, die unseren Ehrencodex gebrochen haben, werden als Verräter betrachtet. Sie erleiden und werden erleiden die Strafe, die sie verdienen in Zeit und Ewigkeit. Alles wurde vollbracht entsprechend den Gegebenheiten einer immanenten Gerechtigkeit."

Abschiedsbriefe sollen den Eindruck des Selbstmordes bestätigen

Ein Abschiedsbrief, bestehend aus mehreren Einzeldokumenten, aufgegeben in Genf mit unleserlichem Datum (andere Berichte: mit Datum des 6.10., also nach dem Geschehen abgestempelt), wurden an Jean-Francois Meyer, einen Schweizer Sektenexperten geschickt, der laut NZZ vom 7.10.94 daraufhin meinte, diese Briefe "erhärteten" die "Selbstmordthese". Es besteht kein Zweifel über die "Echtheit" dieser Dokumente, sondern über ihre Aussage: Die so intensiv vorbereitete Mappe der Abschiedsdokumente und die durchdachte Darstellung des Geschehenen als "Massenselbstmord" gehört zweifellos mit zur Inszenierung (wie z.B. die seltsame Absenderangabe "Mr. D. Part", die gedeutet wurde als "Depart = Abschied, Trennung Abreise). Diese Briefe sind nicht von den Mitgliedern (schon garnicht von den Kindern) mitformuliert. Sie deuten nur auf ein einziges Mitglied der Gruppe hin, auf Luc Jouret, der ihr einziger Denker war; sie bringen ausschließlich die Anschauung und Interpretation der "Ordensführung" und deren Rechtfertigung für das Geschehene zum Ausdruck. Quellen: Archiv Gandow sowie ADFI Paris; Infosecta Zürich; Project Culte Montreal