Was ist Zeit? Im Waldorf-Seminar verliert L. sein Gefühl für Zeit. Sein Ziel, einmal Lehrer zu werden, ist in unendliche Ferne gerückt. Täglich heißt es nur noch Steiner, Steiner, Steiner.
Wie geht es seinen Mit-Seminaristen? Da gibt es die, die alles toll finden, die, denen alles egal ist, und einige wenige, die sich fragen, wo sie eigentlich sind. Die, die alles toll finden, waren zum großen Teil schon vorher Anthroposophen - so bezeichnen sie sich selber. Jetzt sind sie unter Gleichgesinnten. Fühlen sie sich schon erhaben? Manchmal scheinen sie durch das Seminar zu schweben, vom "Geist" beflügelt. Aber wenn jemand eine allzu weltliche Frage stellt, dann wissen sie noch sehr genau, wie sie ihn schnellstens zum Schweigen bringen.
Die größte Gruppe sind die gleichgültigen Schweiger. Sie wissen, warum sie hier sind: Ihr Ziel ist es, ein Ticket in die berufliche Zukunft zu lösen. Was man ihnen nicht übel nehmen kann: Von 25 Seminaristen sind ca. 20 arbeitslos und von den Frauen die Hälfte allein erziehende Mütter. Einige sind "Opfer" der Wende: Noch in der DDR zum Lehrer ausgebildet, standen sie plötzlich im Westen vor verschlossenen Schultoren. Wer will da erwarten, dass sie Fragen stellen?
Und die dritte Gruppe? Bunt gemischt. Arbeitslose Akademiker, die eine neue Chance suchen. Lehrer, die an der staatlichen Schule Probleme hatten.
Die Unterschiede werden immer deutlicher. Konflikte entstehen, die mit der Zeit immer schärfer werden. Ausgetragen werden sie mit Rudolf Steiner. Die einen verehren ihn kultisch, die anderen wollen nur in Ruhe gelassen werden: "Ich verstehe ihn nicht und ich will ihn auch gar nicht verstehen!" Und die Dritten fragen verzweifelt nach: "Kann ich das auch so verstehen?", was bei den Dozenten den allergrößten Unmut hervorruft.
Irgendwann, bei der "Allgemeinen Menschenkunde", bricht dann offener Streit aus. Steiner sagt: "Aber gibt es denn etwas, was wir im Leben tun, bei dem wir nicht das Bewusstsein haben könnten, dass wir es noch besser ausführen könnten? Es wäre traurig, wenn wir mit irgendetwas vollständig zufrieden sein könnten, denn es gibt nichts, was wir nicht auch noch besser machen könnten. Und dadurch gerade unterscheidet sich der in der Kultur etwas höher stehende Mensch von dem niedriger stehenden, dass der letztere immer mit sich zufrieden sein möchte." "Großartig!", denkt L., "die perfekte Kurzanleitung zum Unglücklichsein, nie mit etwas zufrieden sein zu können."
Aber was soll das mit den kulturell höher und tiefer stehenden Menschen? Wo führt das hin? Und genau diese Frage stellt er dem Dozenten, der sie abwiegelt, sich in Relativierungen versucht: "Das ist doch nur als Ansporn gedacht, mit seinen Bemühungen nie nachzulassen ..." "Ja, aber denken Sie das doch mal zu Ende, wo kommen wir denn da hin? Ich finde, das ist ein gefährlicher Gedanke ..." L. kann nicht ausreden, denn schon fällt ihm ein Seminarist ins Wort: "Natürlich gibt es höher und tiefer stehende Menschen! Ich sehe das Problem nicht!" "Das Problem ist, dass derjenige, der sich als höher stehend empfindet, auch andere Rechte für sich beansprucht ..." "Hast du etwa ein Problem mit Hierarchien?" "Ich finde, das geht doch etwas weiter - und in Deutschland hat man ja leider gesehen, wie weit das Höher-und-tiefer-Stehen gehen kann - das ist gefährlich!" Eine Seminaristin beendet die "Diskussion": "Es gibt doch gar keinen Zweifel daran, dass ich als Mensch höher stehe als zum Beispiel jemand, der im Gefängnis sitzt!" L. ist sprachlos und die Stunde ist zu Ende.
In den nächsten Tagen und Wochen beginnt L. zu ahnen, dass die anderen Seminaristen ihm nur helfen wollten: Sie hatten schon begriffen, dass die Anthroposophie größten Wert auf Hierarchien legt - dass die ganze Entwicklung des Menschen, also der Welt, in Stufen verläuft. Der Mensch entwickelt sich fort, aber nur derjenige, der auch die Voraussetzungen dazu mitbringt. So ungefähr deutet er das, was er im Unterricht hört. Sicher ist er nicht. Denn wenn in einer Doppelstunde im Schnitt drei Seiten Steiner gelesen werden, reicht das kaum, sich einen Überblick über die Gesamtausgabe zu verschaffen:
Sind es Tausende oder Millionen von Seiten, die Steiner zu Papier gebracht hat? Jeder noch so kleine Vortrag ist als Publikation erschienen. Von den Dozenten denkt keiner daran, einmal eine Zusammenfassung eines Themas zu geben: der Unterricht hat eher die Form eines Gottesdienstes, in dem ein Steiner-Wort ausgelegt wird. Wie sagt der Dozent Klein: "Ich bin ein Missionar in Sachen Steiner."
Immer wieder verliert man sich in Details: Welche Hierarchien von Engeln gibt es? - das ist insofern von Belang, als Engel Menschen auf einer höheren Entwicklungsstufe sind: Sie haben die Funktion von Führern (deshalb hängt in den Waldorf-Schulen immer eine Darstellung des Erzengels Michael neben dem obligatorischen Portrait Rudolf Steiners). Ein Dozent erklärt, dass er in der Lage ist, die Dauer des persönlichen Fegefeuers auszurechnen ...
"Wie unterrichte ich Geographie an der Waldorf-Schule?", ist das Thema des Dozenten Vormann. Sein Ziel ist es, "hinter den äußeren Eindrücken nach und nach den Schleier für eine höhere Ganzheit zu heben". Eine Woche hat er dazu Zeit, und er nutzt sie, um zwei Kontinente vorzustellen: "Geographische Polaritäten. Zentral- und Ostasien im Vergleich mit Nordamerika." Zunächst ist es nur mehr oder weniger eine Wiederholung des altbekannten Schulstoffes - Gelber Fluss und Colorado River werden gegenübergestellt. Dann widmet er sich seinem eigentlichen Thema: "Mensch und Landschaft". Aus der asiatischen Architektur - der Pagode - folgert er, dass der Asiat sich dem Himmel - "Tien" - zuwendet.
"Und was ist die typische Architekturform Nordamerikas?", fragt Herr Vormann und gibt alsbald die Antwort: "Es ist die Stufenpyramide. Sie steht für die Erdverbundenheit der präkolumbianischen Völker." L. erlaubt sich die Frage: "Und was ist mit den Indianern Nordamerikas - der Puebloarchitektur? Oder dem Zelt der Nomadenvölker der großen Prärien?" "Die haben im großen Überblick keine Bedeutung, die Indianer waren schon eine absterbende Rasse", ist die Antwort des Dozenten. "Eine absterbende Rasse, was meinen Sie damit, dass die Indianer von den Weißen aus ihrem angestammten Lebensraum verdrängt wurden?" "Nein, die Indianer waren schon vorher eine absterbende Rasse, ihnen fehlten die Voraussetzungen für eine kulturelle Höherentwicklung." Keiner der Seminaristen sagt etwas. In L. brodelt es, er erinnert sich an seine Reise in den amerikanischen Westen: "Finden Sie das nicht unfair, nach all dem Unrecht, was die Indianer erleiden mussten, ihnen auch noch die Schuld daran anzulasten?!" "Was regen Sie sich so auf, die alten Ägypter waren schließlich auch eine absterbende Rasse." L. ringt um Worte: "Meinetwegen können Sie das über die alten Ägypter sagen, aber ich habe keine Lust, einem Indianer, den ich als Anhalter im Auto mitnehme, zu erklären, dass er zu einer absterbenden Rasse gehört!"
Herr Vormann ist ob soviel Respektlosigkeit erbost. "Lassen Sie uns im Unterricht fortfahren, diese Frage können wir hier und jetzt nicht hinreichend erörtern!" Ist damit für ihn die Sache erledigt? L. hört nie wieder etwas von ihm ... - aber von der Seminarleitung, drei Wochen später.
In der Zwischenzeit war L. zu seiner zweiten Hospitation im westfälischen Schloss Hamborn, "der Anthroposophischen Lebensgemeinschaft" (inklusive eigenem Friedhof) und Waldorf-Schule. Alles lief wunderbar, die Arbeit in den Werkstätten bereitete ihm viel Freude und Probleme gab es auch nicht - nicht einmal mit den "Problemkindern" (schwer erziehbar, aus Berlin ins Internat verbannt).
Nun aber spricht ihn ein Dozent an: "Wir haben entschieden, dass wir uns morgen zu einem klärenden Gespräch zusammensetzen - das ist dringend erforderlich!" Das klingt "böse", und am nächsten Tag sieht sich L. drei Dozenten gegenüber, die verbal auf ihn einschlagen, vorzugsweise unter die Gürtellinie: "Ihr Verhalten ist pubertär! ... Sie glauben doch nicht, dass Sie jemals einen Job an einer Waldorf-Schule bekommen?! Was meinen Sie, was ich erzähle, wenn mich eine Schule nach Ihrer Beurteilung fragt ..." "Ja, was denn? In der Schule bin ich doch hervorragend klargekommen!"
Am folgenden Tag drückt Herr Fuchs L. die Antwort in die Hand: "Diese Abmahnung haben wir nicht ans Arbeitsamt abgeschickt - wir haben einen Formfehler begangen. Sie hätten nicht alleine, ohne Begleitung eines anderen Seminaristen, an dem Gespräch teilnehmen dürfen." Da ist zu lesen:
"Das Anliegen unseres Gespräches möchten wir in den nachfolgenden Hauptpunkten noch einmal zusammenfassen:
1. Das häusliche Stammkollegium ebenso wie die Gastdozenten erleben das Ausbildungsklima durch den Stil Ihrer expliziten wie beiläufigen Beiträge oftmals empfindlich gestört.
2. Ähnliches gilt zunehmend für eine ganze Reihe von SeminarteilnehmerInnen.
3. Dabei geht es in den seltensten Fällen um den Inhalt Ihrer Beiträge, sondern vielmehr um deren Form, die über das Maß kritischer Auseinandersetzung hinaus als Verletzung elementarer Spielregeln der Höflichkeit, Rücksicht, Toleranz gegenüber Andersdenkenden bemerkt wird.
4. Dadurch entstehen immer wieder Situationen, in denen sich der Unterricht in überproportionalem Ausmaß auf Ihre Person und Klärungsbedürfnisse fixiert.
5. Dass es sich bei solchen Wirkungen teilweise auch um die Kehrseite Ihres gelegentlich enormen Engagements handelt, ist durchaus einsehbar, aber deshalb noch keine Rechtfertigung.
6. Das Gesamterscheinungsbild Ihres Auftretens lässt zurzeit erhebliche Zweifel an Ihrer Einsatzfähigkeit gegenüber Schülern und innerhalb eines Kollegiums aufkommen."
"Danke für die Laudatio!", denkt L. und muss sich eingestehen, dass er ein klein wenig stolz ist, sich geschmeichelt fühlt: Es kann doch niemand im Ernst von ihm erwarten, dass er es kommentarlos hinnimmt, wenn lebende Menschen als Angehörige einer absterbenden Rasse bezeichnet werden. Seine Fragen haben also doch Wirkung gezeigt.
Andererseits ist er schockiert: Mit welch brachialen Methoden wird hier sein Rauswurf betrieben? Will er überhaupt noch hier sein? An seiner "Einsatzfähigkeit innerhalb eines Kollegiums" - das aus Anthroposophen besteht - zweifelt er selber schon länger.
Dennoch entschließt er sich zu bleiben. Zuallererst ist es Trotz: "So nicht!", sagt er sich, und dann gibt es auch noch Gründe: An seiner Situation hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert, er kann nicht einfach so einen Arbeitsplatz aus dem Ärmel schütteln. Und die Arbeit mit den Schülern hat ihm gut gefallen, warum also den Wunsch, Lehrer zu werden, begraben?
Vielleicht kann er ja später den Quereinstieg in eine staatliche Schule versuchen. In der Familie war man auch begeistert: "Endlich machst du mal was Seriöses!", da möchte er niemanden vor den Kopf stoßen. Aber der Hauptgrund liegt woanders - L. will wissen, wie die Geschichte weitergeht. Warum schaut man sich einen Horror-Film an? Man ist fasziniert; je größer der Schrecken, desto besser. Nur die wenigsten verlassen vorzeitig das Kino.
Sein Verhalten wird L. allerdings ändern. Er nimmt sich fest vor, keine Fragen mehr zu stellen, so unauffällig wie möglich zu sein und nur noch zu beobachten. Das allerdings wird ihm von den Dozenten schwer gemacht - einmal als "Feind" identifiziert, legen sie alles daran, ihn zu provozieren.
Ein Gespräch soll geführt werden, über ein anthroposophisches Thema. Jeder im Seminar nennt es Prüfung, die Dozenten nennen es Gespräch. Da heißt es, sich gut vorbereiten; "jetzt bloß nicht auffallen", denkt sich L. und paukt Steiner, so wie er seit seiner Schulzeit nicht mehr gepaukt hat: auswendig lernen, egal, was da steht. Und das Gespräch kommt in Gang und bleibt es auch; so gut, dass der Dozent Klein schließlich meint: "Das haben Sie ja hervorragend dargestellt." "Danke!" "Aber glauben Sie das auch?!" "Natürlich!", antwortet L. und erinnert sich an sein Vorstellungsgespräch. Hatte da nicht jemand gesagt: "Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie Anthroposoph werden ..."?
"Das hätte ich mir eigentlich gleich denken können - wieso war ich nur so naiv?", fragt sich L. und tippt drei Stichwörter in die Internet-Suchmaschine ("google"): "Wolfgang Schad, Anthroposophie, Rassismus." Da hagelt es Einträge. "So einfach ist das also", denkt L., "wenn man etwas erfahren will, ist es gar kein Problem!" Einer der Artikel beschreibt exakt und zusammenfassend, was er im Seminar erlebt und gehört hat. Nach der Lektüre meint seine Schwägerin: "Das ist so ein krudes Zeug - ehrlich gesagt, ich hatte gar keine Lust, das zu lesen ..." "Danke, dass du's trotzdem getan hast", sagt L. und weiß, wo das Problem liegt: Wer es nicht selber erlebt hat, der glaubt es einfach nicht. Hätte er vor einem halben Jahr auch nicht. Vollstes Verständnis. Und vor einem halben Jahr hätte er natürlich auch noch nicht gewusst, wer Wolfgang Schad ist: Professor für Evolutionsbiologie an der Privatuniversität Witten-Herdecke und von einem der Dozenten als Autorität verehrt. In dem Sammelband "Das lebendige Wesen der Erde - Zum Geographieunterricht der Oberstufe" schreibt er zum Thema "Afrika - das Geburtsland der Menschheit": "Äquatoriale Hitze und gesättigte, hundertprozentige Luftfeuchtigkeit erzeugten damals wohl auch in Ostafrika weitgehend jenes 'Waschküchenklima', das im weiteren Laufe der Menschheitsentwicklung allein die Entwicklung von Zwergmenschen zugelassen hat." Als er das entdeckt hatte, fragte L. sich, als was er fortan die Pygmäen betrachten sollte: als Menschen oder Tiere? - vielleicht als Untermenschen?
Aber L. will immer noch Lehrer werden, also: "Schnellstens alles wieder vergessen! Vielleicht sieht die Unterrichtspraxis ja ganz anders aus, und das sind alles dumme Zufälle? Einzelfälle. Ja, vielleicht ..."
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