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BERLINER DIALOG 28, 2005  Sekten

 

Stichwort: Die Christengemeinschaft
von Rüdiger Hauth

Entstehung und Geschichte
Die Geschichte der Christengemeinschaft begann mit zwei Vortragsreihen, die Rudolf Steiner 1921 für junge evangelische Theologen hielt; (im Sommer in Stuttgart und im Herbst in Dornach/Schweiz). Diese hatten Steiner um Ratschläge gebeten für ein "religiöses Wirken, das nicht im Sinne der bisherigen Kirchen, sondern im Sinne einer neuen Geistigkeit sei".
Einer der jungen Theologen war Friedrich Rittelmeyer, geboren am 5. Oktober 1872 in Dillingen an der Donau. Er hatte ev. Theologie studiert und wirkte von 1895 bis 1916 als Pfarrer in Würzburg und Nürnberg. Ab 1916 war er in Berlin tätig. Entscheidend wurden für ihn zwischen 1911 und 1916 verschiedene Begegnungen mit Rudolf Steiner, dem Begründer der "Anthroposophie".
Aufgrund der zu Beginn des Jahrhunderts herrschenden Krise in Theologie und Kirche fühlte sich Rittelmeyer zu Steiners "Geisteswissenschaft" hingezogen und erhoffte sich von ihr eine neue "Geistigkeit".
"Die Anthroposophie ist mir eine Menschheitstat, die aus dem Materialismus endgültig herausführt, ein geistiges Erlösungswerk, das von Mitteleuropa die ganze Menschheit ergreifen will, eine Rettung des Christentums..., ein wirklich lebendiges Wort Christi an die Gegenwart…" (Rittelmeyer, Lebensbegegnung, 136)

Rudolf Steiner. Gründer der Anthroposophie, schuf auch den Kultus der Christengemeinschaft.
Abb.: Archiv Schmidt-Dominé

Rudolf Steiner, Gründer der Anthroposophie
Rudolf Steiner

Durch den Kontakt zu Steiner kam es zu einer wachsenden Entfremdung zwischen Rittelmeyer und der evangelischen Kirche; 1922 schied er aus dem kirchlichen Dienst aus und wurde 1923 in den Vorstand der "Anthroposophischen Gesellschaft" gewählt. Vom Herbst 1922 an leitete er als erster "Erzoberlenker" die neugegründete "Christengemeinschaft". Er starb am 23. März 1938 während einer Vortragsreise in Hamburg. Nach Rittelmeyers Tod folgten als "Erzoberlenker" Emil Bock (1895-1959) und Rudolf Frieling (1901-1986). Im Mai 2005 gab der bisherige "Erzoberlenker" Taco Bay (Jg. 1933) das Amt krankheitshalber an Vicke von Behr (Jg. 1949) weiter.
Am 16.  September 1922 (eigentliches Gründungsdatum) wurde in der Anthroposophen-Zentrale Dornach von Friedrich Rittelmeyer der erste, "Menschenweihehandlung" genannte, "neue Gottesdienst" zelebriert. Einen Tag später ließen sich auch die ersten "Priester" weihen, die dann in verschiedenen Städten Gemeindegründungen vornehmen sollten. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren solche Gemeinden in einer Reihe von europäischen Städten entstanden.
1941 wurde die Christengemeinschaft von den NS-Behörden aufgelöst und ein Teil ihres Immobilienbesitzes beschlagnahmt. 1945 konnte sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Die desolate geistige Situation im Nachkriegsdeutschland erwies sich als guter Nährboden für das Wachstum der Christengemeinschaft.

Organisation
Das Zentrum der Christengemeinschaft mit Verwaltung, Verlag und Priesterseminar befindet sich heute in Stuttgart. 1992 wurde die Zahl der Gemeinden weltweit mit 275 angegeben, davon 140 in Deutschland. Angaben über Mitgliederzahlen werden nicht gemacht. Die Mitgliedschaft in Deutschland wird auf ca. 15.000 Anhänger geschätzt.

Lehre
Die Christengemeinschaft versteht sich als "dritte Kirche", die über Protestantismus und Katholizismus hinausführt. Sie betont die "Freiheit der Lehre" bzw., daßes keine festgelegte Lehre gebe; es gehe vielmehr um die "Erneuerung und Erfahrbarkeit des Kultes".
In der Christengemeinschaft sind Gottesdienst, Architektur, Priesterausbildung, Schrifttum usw. stark anthroposophisch geprägt. Zudem wurden die wesentlichen liturgischen Texte 1921 von dem Begründer der Anthroposophie, R. Steiner formuliert, der selbst dieser Sekte nie beitrat. Sie werden heute in der Christengemeinschaft verstanden als "aus der geistig-göttlichen Welt gegeben" und dürfen deshalb nicht verändert oder gedruckt der Öffentlichkeit vorgelegt werden.
Unter Hinweis auf die verschiedenen Stammbäume Jesu im Matthäusevangelium, Kap. 1 und im Lukasevangelium Kap. 3 lehrte Steiner und im Anschluß an ihn auch Emil Bock, der zweite Erzoberlenker der Christengemeinschaft, daß es zwei Jesusknaben gab, die verschiedener Herkunft waren. Als sie beide zwölfjährig, den Tempel in Jerusalem besuchten, verschmolzen sie miteinander. - Diese esoterische Geschichte wird weder im Glaubensbekenntnis noch in den Sakramenten der Christengemeinschaft erwähnt, wird aber als esoterische Lehre in der Christengemeinschaft weitergegeben.

Kultus
Zum Kultus gehören sieben Sakramente, die der katholischen Tradition nachempfunden sind. Bei der Taufhandlung der Christengemeinschaft wird dem Kind mit. Wasser ein Dreieck auf die Stirn, mit Salz ein Viereck auf das Kinn und mit Asche ein Kreuz auf die Brust . gezeichnet. Diese Substanzen. (Wasser, Salz und Asche) sollen der "neuinkarnierten Seele" ein Stück Erde vermitteln. Die Taufe der Christengemeinschaft wird, da es sich hier um ein anthroposophisches Ritual handelt, von den christlichen Kirchen nicht als christliche Taufe anerkannt.

Das Glaubensbekenntnis der Christengemeinschaft
Auf der Website der schweizer Christengemeinschaft heißt es: ( http://www.christengemeinschaft.ch )
"Das Bekenntnis der Christengemeinschaft umfasst in zwölf Sätzen die Grundtatsachen des Christentums.
Sie erscheinen in einer dem gegenwärtigen Bewusstsein gemässen Form. Innerhalb der geschichtlichen Entwicklung des Christentums stellt es eine neue Werdestufe dar: es geht von der einen Kirche aus, zu der alle als Glieder gehören, die das Heilbringende des Christus in sich fühlen. Der Wortlaut wird jedem persönlich anvertraut, der als Erwachsener Mitglied in der Christengemeinschaft wird."
Formuliert wurde der Text von Rudolf Steiner als "Neues Bekenntnis" oder "Bekenntnisgebet" der Christengemeinschaft:

"Ein allmächtiges, geistig-physisches Gotteswesen ist der Daseinsgrund der Himmel und der Erde, das väterlich seinen Geschöpfen vorangeht.
Christus, durch den die Menschen die Wiederbelebung des ersterbenden Erdendaseins erlangen, ist zu diesem Gotteswesen wie der in Ewigkeit geborene Sohn. In Jesus trat der Christus als Mensch in die Erdenwelt. Jesu Geburt auf Erden ist eine Wirkung des Heiligen Geistes, der, um die Sündenkrankheit an dem Leiblichen der Menschheit geistig zu heilen, den Sohn der Maria zur Hülle des Christus bereitete. Der Christus Jesus hat unter Pontius Pilatus den Kreuzestod erlitten und ist in das Grab der Erde versenkt worden. Im Tode wurde er der Beistand der verstorbenen Seelen, die ihr göttliches Sein verloren hatten. Dann überwand er den Tod nach drei Tagen. Er ist seit dieser Zeit der Herr der Himmelskräfte auf Erden und lebt als der Vollführer der väterlichen Taten des Weltengrundes. Er wird sich einst vereinen zum Weltenfortgang mit denen, die er durch ihr Verhalten dem Tod der Materie entreißen kann.
Durch ihn kann der heilende Geist wirken. Gemeinschaften, deren Glieder den Christus in sich fühlen, dürfen sich vereinigt fühlen in einer Kirche, der alle angehören, welche die heilbringende Macht des Christus empfinden. Sie dürfen hoffen auf die Überwindung der Sündenkrankheit auf das Fortbestehen des Menschenwesens und auf ein Erhalten ihres für die Ewigkeit bestimmten Lebens.
Ja, so ist es.

Beurteilung aus christlicher Sicht
Soweit das anthroposophische Welt- und Menschenbild der Christengemeinschaft zugrundeliegt, steht sie einem gnostischen Denken und einer Mysterienreligion näher als dem biblisch-christlichen und reformatorischen Erbe.
Die Christengemeinschaft muß deshalb konfessionskundlich den christlichen Sekten zugerechnet werden. Sie wird in ihrer Substanz von einer Weltanschauung (Anthroposophie) geprägt, die mit dem biblisch begründeten christlichen Glauben nicht vereinbar ist.
In Rudolf Steiners "geistiger Schau" erkennt sie eine "neue Offenbarungsquelle" an und akzeptiert das aus dem Hinduismus stammende Deutungsmodell von "Karma und Reinkarnation".
R. Steiner war nicht der Gründer der Christengemeinschaft, er hat aber den Kultus - einschließlich eines »Credo« - wortwörtlich festgelegt und in maßgeblichen Vortragszyklen in ihn eingeführt. Die Christengemeinschaft ist »Kultusgemeinschaft«. Sie betont zwar immer wieder die Glaubens- und Lehrfreiheit, jedoch sind ihre Priester und Theologen an den Kultus und das ihm zugrundeliegende eigenartige Denken absolut gebunden. Die Besonderheiten der anthroposophischen Sprache und ihrer esoterischen Begriffe führten von Anfang an zu großen Verstehens- und Kontaktschwierigkeiten zwischen der Christengemeinschaft und den christlichen Kirchen.
Die Christengemeinschaft ist weder Mitglied im ÖRK noch in der ACK. Ökumenische Beziehungen zwischen christlichen Kirchen und der Christengeminschaft sind nicht möglich.

Stellungnahme und Ratschläge
Der Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften der VELKD gibt im Handbuch Religiöse Gemeinschaften den evangelischen Kirchengemeinden folgende Ratschläge zum Umgang mit der Christengemeinschaft:
1. Der Beschluß des Rates der EKD vom 31. Mai 1949, die Taufe der Christengemeinschaft nicht als christliche Taufe anzuerkennen, wurde nach erneuten Verhandlungen im Sommer 1969 wiederholt. In der Christengemeinschaft werden Nottaufen mit der trinitarischen Formel und mit Wasser vollzogen. Sie gelten damit als christliche Taufen. Da sie jedoch so gut wie nicht vorkommen, ist dieses praktisch ohne Belang.
2. Ein evang.-luth. Christ kann bei einer Taufe der Christengemeinschaft nicht Pate sein.
3. Angehörige der Christengemeinschaft können bei einer kirchlichen Taufe zum Patenamt zugelassen werden, sofern gleichzeitige Zugehörigkeit zur evang.-luth. Kirche besteht und der andere Pate Glied der evang.-luth. Kirche ist.
4. Ein in der Christengemeinschaft Getaufter ist beim Übertritt in die evang.-luth. Kirche zu taufen.
5. Die kirchliche Trauung eines evang.-luth. Christen mit einem Angehörigen der Christengemeinschaft ist möglich, da der Christengemeinschaft die Christlichkeit nicht abgesprochen werden kann. Im Traugespräch sollte aber auf die Unterschiede zwischen lutherischer Kirche und Christengemeinschaft eingegangen werden.
6. Evang.-luth. Christen wird abgeraten, sich nach der Ordnung der Christengemeinschaft trauen zu lassen.
7. Zwei Angehörige der Christengemeinschaft können nicht aushilfsweise von einem Pfarrer der evang.-luth. Kirche getraut werden.
8. Die Gewährung eines kirchlichen Begräbnisses für ein verstorbenes Glied der Christengemeinschaft ist aushilfsweise möglich, wenn kein Priester der Christengemeinschaft zur Verfügung steht.
9. Eine Zulassung von Gliedern der Christengemeinschaft zum Abendmahl in der evang.-luth. Kirche ist nicht möglich. Im Falle einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zur evang.-luth. Kirche sollte im seelsorgerlichen Gespräch eine Entscheidung zwischen evang.-luth. Kirche und Christengemeinschaft nahegelegt werden.
10. Ein evang.-luth. Christ sollte an den Sakramenten der Christengemeinschaft nicht teilnehmen.
11. Nimmt ein evang.-luth. Christ regelmäßig an den kultischen Veranstaltungen der Christengemeinschaft teil, so sollte ihm im seelsorgerlichen Gespräch eine Entscheidung nahegelegt werden.
12. Der Christengemeinschaft können kirchliche Räume nicht zur Verfügung gestellt werden.

Literatur
Hauth;Rüdiger: Kleiner Sektenkatechismus, Wuppertal: 2004 (7), 18 ff.
Hapatsch, Hischam A.: Die Kultushandlungen der Christengemeinschaft und die Kultushandlungen in der Freien Waldorfschule, München 1996
Reller, Horst u.a.: Handbuch religiöse Gemeinschaften u. Weltanschauungen, 2000 (5).

Internetlinks
Selbstdarstellung: http://www.christengemeinschaft.de/ und  http://wiki.anthroposophie.net
Zu den zwei Jesusknaben:  http://www.thomas-koerbel.de/Anthroposophie.pdf
http://wiki.anthroposophie.net/Die_zwei_Jesusknaben


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