Göttliche Energien
In vier Hauptteile gegliedert geht Josuttis dem Ansatz der "energetischen Seelsorge" nach: beschäftigt sich Teil 1 (Entwicklungen) mit der (nötigen) Wende von der Psychologie hin zur Phänomenologie und der Wahrnehmung der "göttlichen Energien", erläutert Teil 2 (Bewegungen) die damit verbundenen (ebenfalls nötigen) Brüche unseres Verständnisses: etwa "vom Sinn zum Segen" oder "vom Theologen zum Geistlichen". Teil 3 (Räume) zeichnet diese Wandlungen in Ort, Zeit und Sprache nach. Schließlich möchte Teil 4 (Felder) Anwendungsbereiche dieser Erkenntnisse in ausgewählten Feldern (etwa "Schuld", "Krankheit", "Trauer" usw.) darstellen.
Im Wesentlichen läßt sich die Grundthese in Josuttis Ausführungen folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt neben der kognitiven naturwissenschaftlichen und der intrapsychischen therapeutischen Wahrnehmung des Menschen und seiner Bezüge noch ein eigenes Gebiet der religiösen Wahrnehmung, nämlich das Gebiet des "Heiligen", welches durch Macht-Räume und Energien entscheidend in das Leben der Menschen wirkt.
Spirituelle Gymnastik
Der/die Geistliche der "energetischen Seelsorge" hat dies zu erkennen, muß mit diesen umgehen und darf als Medium in der Aktualisierung dieser göttlichen Felder Heil und Heilung bringen. Diese Aktualisierung geschieht im Grunde durch die Verwendung von Ritualen (incl. Gebet und Segen), die uns in der kirchlichen und biblischen Tradition begegnen.
Immer wieder erfolgt der Bezug auf den Kieler Philosophen H. Schmitz ("System der Philosophie"), der nicht müde wird, "Gefühle [als] überpersönliche, räumlich ergossene Atmosphären, die als ergreifende Mächte Subjekte durch affektives, leibliches Betroffensein heimsuchen" (S. 37) zu beschreiben.
Die Seelsorge wird zu einem "Kampf zwischen den Mächten" (vgl. S. 31), "spirituelle Gymnastik [für] Energiegewinn" (S. 113) wird nötig, der Geistliche, der lernen muß, mit "dem dritten Ohr zu hören, bzw. mit dem dritten Auge zu sehen" (vgl. S. 119) wird zu einem "Medium" mit "mystagogischer Kompetenz" (vgl. S. 117).
Rituale statt Therapien
Weil Seelsorge transkognitiv und transpersonal wird, muß versucht werden, den kirchlichen Riten, die durch "ihre Überrationalisierung ihre Kraft verloren haben" (vgl. S. 142f) ihre Macht wiederzugeben. So lösen die Rituale die Therapien ab: "In der Seelsorge werden Modelle der Psychotherapie repatriiert und radikalisiert" (S. 219). Die Anwendung bleibt schemenhaft: bei Angst heißt es beispielsweise "Die meditative Lektüre der Heiligen Schrift hat weltüberwindende, exorzistische und energetische Wirkung." (S. 203), bei Trauer helfen ebenfalls exorzistische Maßnahmen, denn "das psychologische Trauer-Modell verlängert, indem es auf die Vertreibung der Trauer verzichtet, die Abhängigkeit vom Verstorbenen." (S. 242). Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Segen statt Sinn
Konsequent hält M.J. bei all dem die Absage an die cartesianische Subjekt-Objekt-Trennung bei: es wird "auf die cartesianische Illusion eines mündigen Menschen verzichtet" (S. 44), denn "jeder Mensch ist ein spannungsgeladenes Machtfeld, nicht zuletzt in jenem Bereich, den man traditionell Seele und neuzeitlich Psyche nennt." (ebd.) Auch die Betonung der Individualität und Identität fragt M.J. an: "Ein bewußtseinszentriertes Selbst stellt [...] auf jeden Fall eine Engführung da" (S. 90). Nicht anders steht es mit dem viel bemühten "Sinn": "In einer Welt, die von Sinnlosigkeit erfüllt ist, zieht nicht einfach Sinn, sondern Segen ein." (S. 104).
All dies sind ernstzunehmende, weil durchaus theologisch begründbare Anfragen an die Grundpfeiler etwa auch einer modernen apologetischen Arbeit: Wieweit ist die Aufgabe der Individualität nötig, um zum Heil zu gelangen? Wenn der Mensch in den Bereich Gottes gerät, wird dann nicht sein Selbst darin aufgehoben sein? Bleibt also etwa die Kritik am UL auf der Ebene der "Entindividualisierung" ihrer Mitglieder stehen, befindet sie sich damit zwar auf der Grundlage z.B. des Grundgesetzes des westlich-demokratischen Systems in Deutschland, hat aber noch keine theologische Fundierung erfahren.
Radikalisierter Mißstand
Dieser Mißstand erhält durch M.J. Ausführungen eine Radikalisierung: das Heilige als eigenständige Macht, die "externe Wirklichkeit des Heiligen" (S. 112) gerät wieder in den Blick und wird flankiert von eben all jenen Phänomenen, die bisher von Theologie und Kirche kritisch beäugt wurden: F.D. Goodmann wird mit ihrer Ekstase-Theorie (z.B. S. 33) bemüht, R. Sheldrakes "morphische Resonanz" spielt eine nicht unwesentliche Rolle (u.a. S. 38), Bergson, Mesmer und Yates können als Zeugen angeführt werden (S. 49). Die Resonanztherapie erhält über Reich, Lowen und Bischof (S. 50ff) ihren Platz, darüber auch eine Chakren-Theorie (S. 55).
Die transpersonale Ebene (interessanterweise ohne die Transpersonale Psychologie) wird mit S. Grof (u.a. S. 92) ins Feld geführt, Starhawk (S. 138) darf in neueren Werken zur Thematik ebenso wie der umstrittene B. Hellinger (S. 152) natürlich nicht fehlen. Schließlich runden Cowens/Monte mit ihrem Beitrag zur "Energieheilung" (S. 233) das Werk ab. Zeitreisen in die Zukunft (vgl. S. 130f), Auravisualisierungen (vgl. S. 140), Exorzismen (natürlich wird wieder Blumhardt bemüht - vgl. S. 41ff u.ö.) usw. werden ernsthaft erwogen, freilich "nicht in naiver Dämonologie, sondern moderner Phänomenologie".
Handreichung für spirituell Heimatlose
So wird sicherlich Josuttis Konzept eine hohe Zustimmung unter all denen finden, die sich "religiös" und "spirituell" in ihrer Großkirche nicht mehr heimisch fühlen. Seine Hinweise zum Ritual lassen eine scheinbar "einfachere" Handhabung seelsorglicher Situationen zu und fordern vom Geistlichen keine komplette Ausbildung mehr in therapeutischer Hinsicht. Statt dessen propagiert er die Öffnung nach außen, die Wahrnehmung jeglicher "religiöser Begebenheiten" und bietet damit zweierlei: zunächst die Möglichkeit, sich wieder als Vertreterin oder Vertreter eines Gesamtkonzepts der Wirklichkeit zu verstehen, welches nicht vor naturwissenschaftlicher oder therapeutischer Welterklärung (mangels Kompetenz) schweigen muß, sondern diese im Gegenteil noch souverän überschreiten kann. Zum anderen die "Rückgewinnung" verlorengegangener Gebiete, die heute z.T. durch Esoterik und "naiven Volksglauben" besetzt sind: hier kann der/die Geistliche wieder seinen/ihren legitimen Anspruch anmelden und schafft vielleicht sogar den Bezug zu so manchem - von der Kirche abgekehrtem - Gläubigen.
Energetische Arbeit
Die Deutung bleibt ambivalent: rationale Argumente verlieren hier ihre Gültigkeit: "Deshalb darf man sich [...] durch antireligiöse Äußerungen weder schockieren noch zur Diskussion über die Wahrheit von Religion provozieren lassen. In einer solchen Situation muß man die energetische Arbeit zunächst allein praktizieren." (S. 177), die bisher gültigen Maßstäbe werden zunehmend unsicherer und die neuen Weltanschauungstheorien immer salonfähiger. Man schreitet vorwärts, indem man das Rad zurückdreht!
Meines Erachtens ist es wichtig, sich mit solchen Entwürfen, wie sie M.J. beispielhaft vorlegt, auch in apologetischer Hinsicht zu beschäftigen. Denn sie tragen mehr vor als ein System oder einen Entwurf, sie plädieren für andere - so empfunden: neue (oder in der Neuzeit verschüttete alt-ehrwürdige) - Kriterien, sie sind immun gegen aufklärerische, psychologische oder humanistische Einwände. Dabei stützen sie sich dennoch auf den Glauben an Christus (im Fall Josuttis mit dem Wissen und der Breite einer theologischen Ausbildung!). Diese Verbindung ist immer mehr zu beobachten, sei es "am Dorf" oder "an der Uni", sei es bei "den Kirchenfernen" oder "im Pfarrhaus".
Christliche Apologetik braucht daher wieder eine theologische Ausrichtung und Reflexion - sie muß lernen, beschriebene Phänomene wieder ernst zu nehmen und in den Blick zu kriegen. Das wird auch das Zulassen etwa solcher Anfragen an die Individualität usw. beinhalten - die Diskussion muß offen geführt werden können, eine positive Begründung wird die rein juristische zu überschreiten lernen müssen.
Nur so wird es ihr gelingen, auch unter den "Gläubigen" "glaubhaft" zu bleiben und damit ihrem Anspruch aus 1 Petr. 3,15 (und 16) gerecht zu werden.
|